Weinberg, Mieczyslaw / Fyodor Druzhinin

Complete Sonatas for Viola Solo/Sonata op. 28 / Sonata for Viola Solo

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Neos 11008/09
erschienen in: das Orchester 12/2010 , Seite 77

Wer war Weinberg? Ein polnisch-jüdischer Pianist und Komponist, der – 1919 in Warschau geboren – beim Einmarsch der Wehrmacht in Polen nach Weißrussland flüchten konnte, während seine Familie 1943 im Zwangsarbeitslager zugrunde ging. Nach dem deutschen Überfall auf Russland floh er nach Mittelasien. Seit 1943 lebte er zurückgezogen in Moskau. Wenige nur erkannten sein Genie, darunter Dmitri Schostakowitsch.
Von Komponisten-Kollegen geachtet und von wenigen bedeutenden Interpreten geschätzt, blieb Weinberg der breiteren musikalischen Öffentlichkeit in der Sowjetunion verborgen. Mehr als ein Halbjahrhundert lebte er an der Moskwa, ohne der KPdSU beizutreten und sich am Musikbetrieb, am Kampf um Aufträge und Privilegien zu beteiligen – einzig seinem Schaffen hingegeben, meist ohne Aussicht auf Aufführungen. Trotz seiner Unscheinbarkeit wurde er 1953 nach einem Konzert verhaftet. Über drei Monate verschwand er im Foltergefängnis Lubjanka. Nur Stalins Tod bewahrte ihn vor dem millionenfachen Schicksal der Gulag-Opfer. Als er Anfang 1996 in Moskau starb, hinterließ der große Unbekannte ein sagenhaftes Œuvre von sieben Opern, 20 Symphonien, 17 Streichquartetten und vielen Kompositionen unterschiedlicher Gattung.
Seine auf den beiden CDs versammelten Solowerke für Bratsche und die Sonate für Klarinette und Klavier – hier in einer Version für Viola und Klavier – umspannen vierzig Schaffensjahre, mithin verschiedene Schaffensphasen. Die Sonate op. 28 von 1945 lässt ostjüdischen „Volkston“ durchklingen. Zuweilen glaubt man das Seufzen einer bekümmerten Seele zu hören. Im Mittelsatz streift Weinberg die Sphäre der Klezmorim. Ergreifend das am Ende in überirdische Welten entschwebende Schluss-Adagio. Überhaupt Weinbergs Adagios: wehtönende Selbstgespräche eines großen musikalischen Geistes, die an die Rätsel des Menschseins rühren.
Die Solosonate op. 107 entstand 1971 und ist dem Bratscher Fyodor Druzhinin gewidmet, der hier posthum eine eigene, meisterlich gearbeitete Solosonate beisteuert. Weinbergs op. 107 wie auch seine übrigen drei Solosonaten op. 123 (1978), op. 135 (1982) und op. 136 (1983) sind entdeckungswürdige Kostbarkeiten der Bratschenliteratur, deren jede einen eigenen musikalischen Kosmos erschafft. Der Komponist, dessen Nachruhm sich weltweit auszubreiten beginnt, schenkt dem edlen Instrument das, was seine Spieler seit Bach vermissen: eine Sololiteratur, die das Wunder der Mehrstimmigkeit in der Einstimmigkeit vollbringt und kontrapunktische Verwicklung mit melodischer Eleganz verbindet, wobei er den Interpreten technisch gnadenlos herausfordert. Der Wunder finden sich mehr noch. Man denke nur an das über neunminütige Allegro aus der ersten Solosonate: eine monologische (dialogische?) Szene, in welcher – wie mir scheint – Jakob mit dem Engel ringt.
Man kann Julia Rebecca Adler, seit 2004 Solobratscherin der Münchner Philharmoniker, zu dieser Entdeckung nur beglückwünschen. Eine Wonne zu sehen und zu hören, wie hier eine brillante Virtuosin und besessene Klangdarstellerin einem Schöpfergeist begegnet, der so manchen Gernegroß ins Abseits stellt.
Lutz Lesle