Michael Tilson Thomas

Complete Deutsche Grammophon & Argo Recordings

Solisten, Boston Symphony Orchestra, London Symphony ­Orchestra, New World Symphony, Ltg. Michael Tilson Thomas

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Deutsche Grammophon
erschienen in: das Orchester 4/2025 , Seite 71

Der 80. Geburtstag des kalifornischen Dirigenten, Pianisten und Komponisten Michael Tilson Thomas wird mit zwei repräsentativen CD-Boxen gefeiert, die einander bis auf ganz wenige Ausnahmen in schöner Weise ergänzen. Die Aufnahmen entstanden allesamt in den Jahren 1969–2005 und dokumentieren weite Bereiche seiner Arbeit in den USA und England, jedoch nur in überschaubarer Weise den Standardkanon klassischer Musik.
Die Zusammenarbeit mit der Deutschen Grammophon war auf elf Produktionen beschränkt, die einerseits drei besondere Favoriten des Interpreten in den Fokus rücken (Tschaikowsky, Debussy, Stravinsky), die aber ansonsten den Schwerpunkt vor allem auf die amerikanische Musik des 20. Jahrhunderts legen. Mit dem London Symphony Orchestra legt er zwei legendäre CDs mit Musik von Leonard Bernstein vor, doch auch seine Einspielungen von Musik von Walter Piston, William Schuman, Charles Ives und Carl Ruggles mit dem Boston Symphony Orchestra setzen Maßstäbe.
Thomas war ein Dirigent, der stets auf höchste Transparenz bedacht war, gleichzeitig aber immer darauf achtete, dass einerseits die Gesamtarchitektur stets proportional ausgewogen bleibt, andererseits jede Stimme, gleich ob instrumental oder vokal, bestmöglich „aussingen“ kann. So haben wir bei seinen Images von Debussy aus Boston zwar einen kaum überhörbaren amerikanischen Tonfall, aber auch ein feines Gespür für Rhythmik und einen jederzeit wachen Sinn für Klangfarbigkeit, für lebendigen, organischen Aufbau. Er weiß – auch klanglich – zuzuspitzen und braucht keine extremen Tempi, um Spannung aufzubauen. Seine Interpretationen der Cellokonzerte von Schostakowitsch (mit Mischa Maisky und dem London Symphony Orchestra) sind den besten Einspielungen Maxim Schostakowitschs zur Seite zu stellen. Sein Sacre du printemps aus Boston von 1972 ist im besten Sinne elektrisierend, dazu bietet die Platte Stravinskys selten zu hörendes Chorwerk Le Roi des étoiles in einer Referenzeinspielung.
In Leonard Bernsteins Arias and Barcarolles (mit den Solisten Frederica von Stade und Thomas Hampson) gelingt es Thomas, unterschwellig Beziehungen zu Michael Tippett zu ziehen, und in Walter Pistons zweiter Sinfonie arbeitet er bei allen Unterschieden Bezüge zu seiner Tschaikowsky-Sicht (in der Box enthalten ist die erste Sinfonie) heraus – eine spannende Perspektive. Überhaupt arbeitet er Bezüge zwischen Alter und Neuer Welt in spannungsvoller und individueller Weise heraus.
1987 gründete Thomas in Florida das New World Symphony für junge Musiker:innen. Wir hören mit ihnen Musik von Morton Feldman oder Ingolf Dahl, aber auch ein Konzeptalbum mit Musik aus Lateinamerika von Chávez über Revueltas bis Ginastera und Piazzolla.
Jürgen Schaarwächter