Antonio Vivaldi
Complete Concertos and Sinfonias for Strings and Basso Continuo
Ensemle L'Archicembalo
Man lässt sich rasch in einen Rausch versetzen, wenn man Vivaldi hört oder spielt. Einen Rausch, der im Bereich der Musik vielleicht mit den Minimalisten um Philip Glass vergleichbar ist und einer Trance gleichkommt – die dann auch leicht kippen kann. Wir legen die mehr als vier Dutzend Concerti und Sinfonias für Streicher und Basso Continuo auf, die das Ensemble L’Archicembalo nun komplett auf vier Scheiben bannte, und hören sie in einem Stück durch. Das sollten wir nicht tun. Wir vergessen während dieser viereinhalb Stunden, dass der Komponist selbst nie daran dachte, die über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren entstandenen Werke als Zyklus aufzuführen, und sind nach anfänglichem Enthusiasmus für die federnde Musikalität im Extremfall irgendwann genervt vom scheinbar immer Gleichen. Man täte damit dem Italiener und seinen Musiker-Nachfolgern großes Unrecht, und das merkt man sofort, wenn man sich dem Sog entzieht und die fast durchweg dreisätzigen Stücke, die selten mehr als insgesamt fünf Minuten in Anspruch nehmen, einzeln hört; man also auf den Dauerkonsum der Droge verzichtet und diese Musik wahrnimmt wie ein Glas Champagner: Spritzig, perlend, kühl öffnet es die Sinne für die fantasievolle musikalische Intelligenz, die dahintersteht, die prachtvolle Klanglichkeit, die rhythmischen Finessen der schnellen Rahmensätze und die schrägen dissonanten Reibungen in manchen Adagios. Über fünfzig Concerti und Sinfonias für Streicher ohne Solisten sind von Vivaldi überliefert, die meisten entstanden zwischen 1720 und 1741. Die (oft autografen) Partituren liegen heute in Turin, ein Dutzend auch in Paris. Die Sinfo-
nias stammen aus dem Zusammenhang der Opernproduktion und dienten als Ouvertüren oder Aktvorspiele. Dass die Concerti beeinflusst sind von Corellis Concerti Grossi, aber auch selbst Einfluss ausübten (etwa auf Händels op. 6), ist unüberhörbar. Hört man die Stücke einzeln oder in kleinen Gruppen, eröffnet sich ihr ganzer Reichtum augenblicklich. Das italienische Ensemble L’Archicembalo spielt auf historischen Instrumenten nicht nur virtuos, sondern mit hoher klanglicher Differenzierung. Die beiden dissonanten Adagios im Madrigalesco-Concerto oder das Largo aus dem g-Moll-Werk RV 155 (einer der wenigen Sätze mit konzertierender Solovioline) sind dafür ausgezeichnete Beispiele. Sie verblüffen durch motivisch-variativen Einfallsreichtum ebenso wie durch instrumentale Brillanz, subtile Intonation oder manigfaltig eingesetzte Bogentechnik. Die Geiger Marcello Bianchi, Bruno Raspini, Giulia Sardi, Paolo Nervi und Marco Pesce wechseln sich als Konzertmeister ab, und Daniela Demichli am Cembalo und Matteo Cicchitti (Violone) sind ein perfekt eingespieltes, höchst fantasiereiches Continuo-Team.
Matthias Roth