Olaf Matthias Roth

Claudio Monteverdi. Marienvesper

Bärenreiter Werkeinführungen

Rubrik: CD
Verlag/Label: Bärenreiter
erschienen in: das Orchester 01/2018 , Seite 62

Wer hätte das gedacht: Da gehört heute ein Stück von 1610 zur Standardliteratur des Musiklebens und ist wert, einen Platz in der Reihe „Werkeinführungen“ des Bärenreiter-Verlags zu erhalten. In den 1930er Jahren zum ersten Mal zusammenhängend aufgeführt, gehört es in unseren Tagen „zu den Säulen abendländischer Kultur“! Eindrücklicher kann ein Beweis der Aktualität alter Musik nicht sein.
So qualitätvoll und nützlich die gesamte Verlagsreihe, so gut gemacht ist auch dieses Büchlein, eine gelungene Ausleuchtung der historischen, theologischen und kompositorischen Hintergründe der Monteverdi-Vesper, wertvoll „für Kenner und Liebhaber“: für Liebhaber durch die klare, unaufgeblasene Sprache und die vielfältigen Kriterien, unter denen das Werk betrachtet wird, für Kenner u.a. durch das Rekurrieren auf das originale Stimmenmaterial mitsamt seinen Anweisungen zur Aufführung, durch die analytischen Anmerkungen zu den einzelnen Sätzen unter den Aspekten Satz­technik, Rhetorik, Ornamentik, mu­sikalische Textausdeutung u.a.m. (besonders nachhaltig das Kapitel zu den beiden „Magnificat“).
Sehr hilfreich sind die Erklärungen zur Editionsproblematik, zur Rezeptionsgeschichte, zu Literatur und den wichtigsten Aufnahmen des Stücks. Die lateinischen Texte mit deutscher Übersetzung sowie eine Tabelle mit den Psalmtönen runden das Spektrum ab. Das Ganze basiert auf dem aktuellen Forschungs­stand, wobei neben der deutschsprachigen auch die englische und italienische Literatur berücksichtigt wird, ohne dass die Abhandlung eklektisch wirkt – das Eigene weiß der Autor in seiner sinnvollen Auswahl der Fragestellungen und des Materials und in der logischen Abfolge der Kapitel einzubringen.
Vor lauter Bestreben, bei vorhandenen Widersprüchen in der Fachliteratur objektiv zu bleiben, könnte man sich höchstens ab und zu eine dezidiertere eigene Meinung wünschen. Dies beispielsweise bei der Frage nach der Funktion der „Concerti“ zwischen den Psalmen, nämlich ob die Concerti die liturgisch vorgeschriebenen Antiphonen ersetzen oder beides musiziert werden soll. Ein Argument für die Ersatz-Entscheidung wäre, dass die Vesper auf diese Weise an verschiedenen (Marien-?)Festen und auch, gemäß Titelblatt des Drucks von 1610, in „fürstlichen Kammern“ aufführbar sein sollte; oder beim Problem der Schlüsselung/Transposition: Hochgeschlüsselte Stücke sind de facto eine Quarte, seltener eine Quinte, allenfalls eine kleine Terz nach unten zu transponieren. Oder bei Fragen wie etwa, warum im Original zwei Magnificat abgedruckt sind, nämlich mit ziemlicher Sicherheit zur Auswahl: Das 6-stimmige ist ohne obligate Instrumente ausführbar. Der Vorteil in des Autors Methode liegt allerdings in der Anregung, sich selbst Gedanken zu machen auf der Basis der zur Debatte stehenden Varianten.
Bei all der Schönheit des Werks, die dem Leser nahegebracht wird, und allen offenen Fragen, die für eine Aufführung zu klären sind, bekommt man Lust auf weitere Auseinandersetzung mit Monteverdis Marienvesper. Was kann eine „Einführung“ noch mehr leisten?
Peter Reidemeister