Wolfgang Schreiber

Claudio Abbado

Der stille Revolutionär - Eine Biographie

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: C. H. Beck, München
erschienen in: das Orchester 10/2019 , Seite 56

„Wer über Autorität spricht, hat sie nicht.“ Aus seiner Abneigung gegen Diktatoren am Dirigentenpult hat Claudio Abbado keinen Hehl gemacht. Eher sah er sich als Primus inter Pares, der ohne viele Worte seine künstlerischen Idealvorstellungen im gemeinsamen Musizieren mit Orchestern verwirklichen wollte. Zum fünften Todestag des großen italienischen Dirigenten, der über Jahrzehnte das Musikleben an bedeutenden Orten wie Mailand, Wien, Berlin, London, Chicago und Luzern prägte, versucht der Musikkritiker Wolfgang Schreiber das Phänomen Abbado in einer umfassenden Biografie zu ergründen. Detailliert befasst er sich mit den Stationen von dessen Leben und Wirken, von der Kindheit und Jugend in einer Mailänder Musikerfamilie bis hin zu den späten Jahren, in denen er sich mit dem Lucerne Festival Orchestra und dem Orchestra Mozart in Bologna nochmals neue Horizonte eröffnete. Kenntnisreich zeichnet der Autor das Bild eines universell gebildeten und gesellschaftlich engagierten Künstlers, der die in ihrer Tradition erstarrte Mailänder Scala in den 1970er Jahren für Arbeiter und Studenten öffnete und der neben Verdi- und Rossini-Opern in wegweisenden Neuinszenierungen, etwa von Strehler oder Ponnelle, viele Werke zeitgenössischer Komponisten wie Nono, Berio oder Stockhausen aufführen ließ. Nach seiner Zeit in Mailand konzentrierte Abbado sich als Generalmusikdirektor der Stadt Wien neben seiner Tätigkeit an der Staatsoper auf das interdisziplinär ausgerichtete Neue-Musik-Festival Wien Modern. Heutige Komponisten sollten das Gefühl haben, dass sie für ein lebendiges Publikum komponierten und nicht in einem Getto von Spezialisten lebten – diese Mahnung Abbados hat nach wie vor Gültigkeit. Brücken zwischen verschiedenen Künsten baute er nach dem Mauerfall 1989 auch während der zwölf Jahre als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Mit den Themenzyklen, in denen sich Musik mit Theater, Literatur, bildender Kunst und Film verband, wollte er im wiedervereinten Berlin ein Publikum aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten gewinnen.
Bezüglich seines Dirigierstils wird der prägende Einfluss Wilhelm Furtwänglers hervorgehoben, den Abbado in seiner Jugend an der Scala erlebt hatte. Orchesterproben seien für den Italiener lediglich eine „nüchterne Vorbereitung“ auf den „transzendierenden Konzertaugenblick“ gewesen, erklärt Schreiber. Weitere Kapitel handeln von Abbados europäischen Jugendorchestern sowie von der Arbeit mit Klangkörpern in der Schweiz, Italien und Lateinamerika während seines letzten Lebensjahrzehnts. Nach Abbados Tod im Januar 2014 gründete seine Tochter Alessandra den Verein Mozart 14, der die von ihrem Vater initiierten sozialen Musikprojekte in Bologna fortführt. Ein nach Opernhäusern und Orchestern geordnetes Verzeichnis ausgewählter Ton- und Bildaufnahmen rundet die gut lesbare Dirigentenbiografie ab.
Corina Kolbe