Beatrix Borchard
Clara Schumann
Musik als Lebensform. Neue Quellen – andere Schreibweisen
Am 13. September 2019, direkt am 200. Geburtstag von Clara Schumann (1819–1896) wurde im Schumann-Haus Leipzig die neue Präsentation „Experiment einer Künstlerehe – Die Leipziger Zeit der Schumanns“ eröffnet. Deren Kuratorin Beatrix Borchard brachte parallel ihre dritte Schrift zum Leben und Vermächtnis der heute populärsten Komponistin, Pianistin und Klavierpädagogin des 19. Jahrhunderts heraus. Dazu wertete sie einen Teil der nach Abschluss 20000 Dokumente umfassenden neuen Schumann-Briefedition aus. Nach ihrer Promotion über Clara Wieck und Robert Schumann, Bedingungen künstlerischer Arbeit in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Biographie Clara Schumann: Ihr Leben ergab sich die Notwendigkeit der Publikation durch erst seit Kurzem zugängliche Dokumente.
Beatrix Borchard gliederte ihre Studie nach Teilen der Korrespondenz und Bildern, die zu Reflexionen über Lebensbereiche Anlass geben. Dabei geht es ihr nicht um eine Wertung des Verhaltens von Clara Schumann oder eine Kritik an den Geschlechterkonventionen des 19. Jahrhunderts. Auch Spekulationen über Clara Schumanns Beziehung zu Johannes Brahms sucht man zum Glück vergebens. Stattdessen widmete Borchard jenen inneren Widersprüchen und sozialen Paradoxien, die sich für das Ehepaar Schumann bei der Verwirklichung seiner Vision einer idealen Lebensund Künstlergemeinschaft auftaten, besondere Aufmerksamkeit. Die Studie beginnt mit einer Erörterung, inwieweit Briefausgaben im 19. Jahrhundert weniger zu einem wahrheitsgetreuen als der Inszenierung eines idealen Persönlichkeitsbilds beitragen sollten.
Borchard entwirft das Porträt einer Frau auf der Suche nach Idealen: ideales Künstlertum, ein ideales Bild ihres Ehemanns Robert, den sie um vierzig Jahre überlebte, und ideales Musikverständnis zwischen Virtuosentum und „Innerlichkeit“. Die Autorin arbeitete deutlich heraus, dass Clara neben der Ausbildung des Vaters auch durch die Mutter Mariane, geborene Tromlitz, schon früh wirtschaftliche Unabhängigkeit im Beruf der Klavierlehrerin als Lebensoption in Erwägung ziehen konnte. Anhand der Entstehung des Gipsreliefs von Ernst Rietschel mit den Profilen der Gesichter von Clara und Robert erörterte sie die Haltung des Paars zu den gültigen Hierarchie-Ebenen des 19. Jahrhunderts, denen zufolge Clara Schumann als Frau unter dem Mann und als Interpretin unter dem Komponisten rangieren sollte.
Die Methodik und Darstellung Borchards macht ihre Studie auch deshalb lesenswert, weil sie modellhafte Perspektiven auf die biografische und soziologische Aufarbeitung der Musik des 19. Jahrhunderts eröffnet. Überdies zeigt Borchard in der Beschreibung eines Würdigungsblattes für Clara Schumann mit Musikerinnen-Autografen aus dem Jahr 1929 Clara Schumann als Identifikationsfigur für den „lautlosen Aufbruch“ von Komponistinnen sowie das Spannungsfeld zwischen Konvention und Kreativität, in dem sich fast jede öffentlich auftretende professionelle Musikerin bis Anfang des 20. Jahrhunderts bewähren musste.
Roland Dippel