Schneider, Enjott

China meets Europe / Changes. Concerto for sheng and orchestra / Chinese Seasons. Symphony No. 3 with alto and sheng

Vesselina Kasarova (Mezzosopran), Wu Wei (Sheng), Tonkünstler-Orchester, Ltg. Xincao Li

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 5111 2
erschienen in: das Orchester 04/2015 , Seite 81

Wenn Europäer auf Chinesen treffen, bedarf es durchaus einer „Gebrauchsanweisung“. Am besten eine in der Gestalt, wie sie der Journalist Kai Strittmatter anregend und heiter publiziert hat. Schließlich ist
in chinesischen Büchern „unser hinten vorn“, da im „Reich der Mitte“ von rechts nach links geschrieben wird. Kompasse zeigen nach Süden statt nach Norden. Da braucht man schon einen Wegweiser, um sich im Alltag zurechtzufinden.
Musikalische Annäherungen scheinen da einfacher. Zwar entsprechen die zwölf Lü, die die Oktave teilen, nur ungefähr unseren Halbtönen, doch die Pentatonik ist anhemitonisch und verwandt. Enjott Schneider, Präsident des Deutschen Komponistenverbandes, hat sich seit vielen Jahren mit der Kultur Chinas auseinandergesetzt. So sind die beiden Kompositionen Changes und Chinese Seasons, die ganz aktuell vom niederösterreichischen Tonkünstler-Orchester St. Pölten unter Xincao Li mit dem Sheng-Spieler Wu Wei auf CD eingespielt wurden, „Dokumente dieses kommunikativen Austausches“. Dabei bleibt Schneider weitestgehend der mehrstimmigen „westlichen Sinfonik verpflichtet“. Asiatisches Kolorit verströmen sie vor allem durch feine Anklänge an chinesische Melodien sowie durch die Klangfarbe der chinesischen Mundorgel Sheng.
Drei von acht Triagrammen des Buchs der Wandlungen I Ging (Yi Jing) hat Schneider in das Konzert Changes für Sheng und Orchester gegossen. Sie zeigen ihn weniger als chinesischen Kulturbotschafter denn als unterschiedlichste Stimmungen klar nachzeichnenden, subtil beschreibenden und ausdrucksstarken Filmmusik-Komponisten (Schlafes Bruder, Stalingrad). Das klingt besonders im 1. Satz Tschen (Zhén), in dem Paukenschläge den Donner symbolisieren, nach dem innovativen und pointierten Stil eines Enrico Morricone. Lebhaft und mit starken dynamischen Kontrasten erscheint das heitere Touei (Dui) des dritten Satzes. Mittels einer 12-Ton-Reihe erreicht Schneider im zweiten Satz Kan dazu eine ergreifend-introvertierte Atmosphäre, die in ihrer Dichtheit und ungekünstelten Melancholie die große Sensibilität des Komponisten für diese Jahrtausende alte Weisheiten-Sammlung offenbart.
Dies gilt auch für die symphonische Verarbeitung der chinesischen Jahreszeiten-Symbolik in Chinese Seasons. Hans Bethges Nachdichtungen chinesischer Lyrik, mit kongenialem Expressionismus von der Mezzosopranistin Vesselina Kasarova in ausdrucksstarkes Licht getaucht, führen über emotionale Ergriffenheit zu berührenden Klangformen. Da zeigt sich der flirrende Sommer in lebendigen Motivbewegungen, da ziehen kräftige Motivstrukturen am herbstlichen Firmament auf. Im Winter sinkt die Starre „ganz lautlos auf die harte, kühle Erde“ und rhythmisches Wiedererwachen umschreibt den Frühling.
Eine „Gebrauchsanweisung“ ist zur Erfassung von Enjott Schneiders Sinfonie nicht nötig – dafür verlässt sie westliche Musikhörgewohnheiten nur selten. Sie bietet freilich viele sinnliche Klangerfahrungen in einem Ost-West-Dialog, den das engagierte Tonkünstler-Orchester unter der präzisen Leitung von Xincao Li mit großer Intensität führt.
Christoph Ludewig