Ozawa, Seiji

Chicago Symphony Orchestra

The complete RCA Recordings

Rubrik: CDs
erschienen in: das Orchester 10/2017 , Seite 68

Die in den 1950er Jahren nicht seltene Haltung überheblicher Europäer und Amerikaner, ein Japaner könne die abendländische Musik niemals wirklich fühlen, scheint aus einem anderen Zeitalter zu stammen. Seiji Ozawa gehört zweifellos zu den größten Dirigenten unserer Zeit. Und steht nach schwerer Erkrankung mit seinen 81 Jahren heute wieder am Pult. Bei zehn Labels hat der Sohn eines Buddhisten und einer Christin über 400 Einspielungen von 55 Komponisten vorgelegt, allen voran mit dem Boston Symphony Orchestra, das er 29 Jahre lang als Chefdirigent leitete. Eine Reihe herausragender Aufnahmen entstand zwischen 1966 und 1969 aber in Zusammenarbeit mit dem Chicago Symphony Orchestra. 1964 hatte Ozawa quasi über Nacht die künstlerische Direktion des renommierten Ravinia-Festivals übernommen, das als Hausfestival des Orchesters bereits um die Jahrhundertwende gegründet worden war. Der Zufall spielte dabei durchaus eine Rolle – und Seiji Ozawa wusste ihn für sich zu nutzen. Georges Prêtre war für die Saison 1963 krankheitsbedingt als Dirigent ausgefallen, der 27-jährige Japaner sprang ein. Und hinterließ einen so nachhaltigen Eindruck, dass ihm nach dem plötzlichen Rücktritt von Walter Hendl die Leitung des Festivals angetragen wurde.
Neben anderen war dies sicher ein Meilenstein auf seinem Weg in die Weltspitze der Dirigenten. 1969 gab er die Leitung wieder ab. Bis dahin entstanden sechs atemberaubende Schallplatten mit Werken von Beethoven bis Schönberg beim Label RCA mit der Chicago Symphony, aufgenommen freilich nicht auf offener Bühne während des Ravinia Festivals, sondern in verschiedenen Konzertsälen in Chicago und New York. In einer Box sind die Aufnahmen von RCA (das heute zum Sony-Imperium gehört) nun neu im „Red Label“ aufgelegt worden. Charmant: Auch die Hüllen wurden in entsprechender Verkleinerung übernommen. Das Booklet enthält historische Fotos, vor allem mit Ozawa als selbstbewusstem jungem Mann.
Das einzige Manko des Projekts ist vielleicht die Werkauswahl, wer auch immer damals dafür zuständig war. Denn obwohl mit zwei Klavierkonzerten Béla Bartóks, einem Klavierkonzert von Arnold Schönberg (beide mit Peter Serkin) und der Ballettmusik Le Sacre du Printemps von Strawinsky einige zeitgenössische Werke vertreten sind, waren Ozawas Programme beim Ravinia-Festival noch deutlich radikaler. Es gab viel amerikanische Musik, viele Uraufführungen.
Sie fehlen komplett. Stattdessen: großes klassisches Repertoire mit Tschaikowskys und Beethovens Fünfter, Schuberts Unvollendeter, den Bildern einer Ausstellung von Mussorgsky/Ravel und Brittens Young Person’s Guide to the Orchestra. Andererseits: Ozawas Zauber, die unbändige Energie des „Hunderttausend-Volt-Dirigenten“, die unerbittliche Klarheit und Linearität seiner Interpretationen kommt gerade in Werken zum Tragen, die man vermeintlich schon bis zum Abwinken kennt. Man wird die Schauer der Erregung beim Hören jedenfalls gar nicht mehr los.
Johannes Killyen