Martin Christoph Redel

Chiaroscuro

Nicole Pieper (Mezzosopran), Felix Brucklacher (Klarinette), Hiroko Arimoto (Klavier), Heidrun Holtmann (Klavier), Friedhelm Flamme (Orgel), Trio Jean Paul, NDR Radiophilharmonie Hannover, Ltg. Michel Tabachnik

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Genuin
erschienen in: das Orchester 6/2022 , Seite 76

Es klingt zu Beginn wie ein Aufschrei, durch Tritoni verschachtelte Klänge beherrschen das atmosphärisch dichte Orchesterwerk. Anton Bruckner ist im Hintergrund spürbar, bis hin zum Originalzitat, das sich, umgeben von einem polytonalen Klangkontinuum, allmählich auflöst. Martin Christoph Redels Bruckner-Essay (1982) für Orchester eröffnet diese großartige Porträt-CD, welche einen hervorragenden Einblick in das Schaffen des 1947 geborenen Komponisten gibt.
Unter dem Titel Chiaroscuro vereinen sich unterschiedliche Werke, die zwischen 1982 und 2020 entstanden sind. Die gleichnamigen „Passages“ (2020) für Orgel demonstrieren solch starke Kontraste – bezogen auf eine Maltechnik der Renaissance – durch Klangfarbenreichtum und verschiedenste Rhythmen. Dennoch bleiben Melodielinien im Sinne eines Cantus firmus erkennbar.
Bei der Spiegel-Fantasie Gefangene Augenblicke (2014) für Klavier führen asymmetrische Bewegungsmuster zu einer beeindruckenden klanglichen Vielfalt (manches erinnert dabei an Olivier Messiaen), welche durch abgedämpfte Basstöne und Glissandi im Flügelinnenraum ergänzt wird. Die Schattenlinien (2001) für Klaviertrio bewegen sich nahe an einem akademisch trockenen Kompositionsstil der vergangenen Avantgarde. Sie wirken deswegen nicht so individuell wie die anderen Werke auf dieser CD.
In Martin Christoph Redels Musik ist, neben der überzeugenden handwerklichen Fertigkeit, etwas unmittelbar den Hörer Ansprechendes. Das liegt an seiner Fähigkeit, auch in komplexen klanglichen Situationen melodisch Fassbares zu komponieren. Dadurch atmet die Musik und hat etwas zutiefst Menschliches.
Geradezu als ein Meister expressiver Melodielinien zeigt sich Redel in den neun Miniaturen für Sologesang Im Verborgenen (2013). Die nächtlichen Gedanken aus den Gedichten von Irena Wachendorff werden in eine bezaubernde Klangpoesie verwandelt, welche beim verträumten Verborgen auch Summen und beim bizarren Reigen perkussive Elemente mit einbezieht.
Das letzte Werk Nachtstück (2020) für Klarinette und Klavier mit dem Untertitel „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ bündelt noch einmal in seiner Expressivität die starken Kontraste des Chiaroscuro in Dynamik und Tempo. Es kann als ein ganz persönliches Plädoyer des Komponisten mit seinen Gedanken zur beunruhigenden gesellschaftlichen Lage unseres Landes gesehen werden. Dabei hat das unaufgelöste musikalische Schubert-Zitat am Ende eine besonders starke Wirkung.
Sämtliche Interpret:innen überzeugen mit großartigen künstlerischen Leistungen. Bei allen Aufnahmen ist ein durchweg gutes Klangbild und eine ausgewogene Abmischung zu hören. Das zweisprachige Booklet von Tilmann Böttcher enthält neben biografischen Angaben zu den Künstler:innen informative Gedanken zum Komponisten und zu den einzelnen Werken.
Christoph J. Keller