Ulrich Tadday (Hg.)

Chaya Czernowin

Musik-Konzepte 194

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Edition Text + Kritik
erschienen in: das Orchester 1/2022 , Seite 65

Die Israelin Chaya Czernowin erfüllte alle Voraussetzungen, um die Aufmerksamkeit der Förderinstanzen deutscher Musikkultur zu wecken: Sie ist Tochter der Opfergeneration des Holocaust, eine gewinnende, Intellekt und Feingefühl vereinende Persönlichkeit und erschafft eine Klangwelt, die aus dem Körper kommt und in den Körper geht.
Einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdiensts, das sie 1983-85 für Kompositionsstudien bei Dieter Schnebel nutzte, folgten u. a. der Kranichsteiner Musikpreis, der Bayerische Theaterpreis und der Siemens-Förderpreis. Ihre Opern Pnima … ins Innere (2000) und Infinite Now kürte die Zeitschrift Opernwelt jeweils zur „Uraufführung des Jahres“. Viel Zuspruch fand auch ihr Auftragswerk Heart Chamber (2019) für die Deutsche Oper Berlin. Die 100. Donaueschinger Musiktage eröffnete sie kürzlich mit Unhistoric Acts für Chor und Streichquartett: schändliche Episoden aus der jüngeren Geschichte der USA, ausgehend von George Eliots Diktum, das Gute benötige auch ruhmlose Handlungen.
Nachdem die Neue Zeitschrift für Musik der Komponistin 2020 ein Themenheft gewidmet hatte, ehren die „Musik-Konzepte“ der Edition Text + Kritik sie nun mit einem gehaltvollen Essayband. Anhand von zwei Interviews, die er mit Czernowin über ihre Opern führte, sucht der britische Kritiker Tim Rutherford anfangs zu ergründen, inwieweit ihr metaphorisches Sprechen über diese Werke einem genauen Partiturstudium standhält, ob es Sinngehalte ihrer Musik enthüllt und als „analytischer Leitfaden“ taugt.
Im Rückblick auf ihre gemeinsame Arbeit an der Neufassung des Bühnenzwitters Zaïde/Adama (Czernowins Opern-Torso einmontiert in Mozarts Singspiel-Fragment) verwickelt der Regisseur Ludger Engels die Komponistin in einen aspektreichen Disput über Chancen und Risiken des Versuchs, kompositorische Ideen und szenische Visionen in Einklang zu bringen. Chernowins Kammermusikstück Sahaf dient der Musikforscherin Hila Tamir Ostrover als Fundgrube „kreuzmodaler Sinneskorrespondenzen“ (Wechselbeziehungen zwischen Klangereignissen und Bild-, Bewegungs- und Raumvorstellungen). Womit sich die These bewahrheitet, ihre Musik sondiere häufig „die komplexe Beziehung zwischen Klängen und unserer diesbezüglichen Körpererfahrung“.
Die Frage, wie sich Czernowins Hidden für Streichquartett und Elektronik zu den physischen Grenzen der Wahrnehmbarkeit verhalte, führt die Amsterdamer Musikwissenschaftlerin Julia Kursell auf die Spur vierer Kompositionsverfahren: die Bildung von „Tonschwärmen“, die „akustische Maskierung“ (schock­artiges Fortissimo), das ­Herauslösen des Streichquartetts aus dem Gesamtklang und die Langsamkeit des Stücks. Am gleichen Werk versucht die Dramaturgin Barbara Eckle den Landschaftsbegriff der Komponistin zu bestimmen: als widersprüchliche, utopische, submarine oder außerirdische Welt. Zuletzt deutet der amerikanische Komponist Trevor Bača ihr Cellokonzert Guardian als Traumsequenz vom Fliegen und Fallen.
Lutz Lesle