Schneider, Enjott
Chatroom
für gemischten Chor (SATBarB) und Klavier nach Texten aus dem WorldWideWeb, Chorpartitur
Wie formuliert man ein fassungsloses Sich-an-den-Kopf-fassen?! Was fällt einem zu SMS- oder Chatabkürzungen à la LOL & HDGDL hochsprachlich betrachtet noch ein?! Nun, wenn man diese Aspekte des menschlichen Lebens mit einer gehörigen Portion Mutterwitz gesegnet als authentische Lebensäußerung betrachtet und sehr kreativ ist, eine ganze Menge: Ästhetik des Abfalls als Ort des wahren Menschseins, so charakterisiert Enjott Schneider seinen Chatroom, den er den Singphonikern gewidmet hat.
Schneider knüpft mit seinen fünf Chor-Klavier-Kompositionen an eine bewährte Tradition der Kunst- und Musikästhetik des beginnenden 20. Jahrhunderts an, findet gedanklich Nähe zu Dadaisten und Surrealisten: Sie bevorzugten die ,objects trouvés und [
] erklärten Alltagsgegenstände zum Kunstwerk. Man mag diesen Kunstbegriff durchaus kritisch sehen, unterhaltsam ist er allemal. Und schaut man sich die den Kompositionen zugrunde liegenden Texte an, deren abstrakte Lautpoesie der Internet-Kommunikation semantisch mitunter in Unfug und aufgeblasene Schein-Emotionalität, in höheren Nonsens mündet, so versteht man sogleich den Reiz, diese als musikalische Herausforderung anzunehmen.
Kompositorisch im Bild traditionell umgesetzt sind die fünf Kleinodien für geübte gemischte Chöre mit pianistischer Unterstützung sehr dankbare Konzertstücke. Neben einem guten Sinn für Ironie, schauspielerischen Fähigkeiten, Hemmungsarmut im deutlichen Artikulieren gar nicht feiner Wörter und viel Humor bedarf es musikalisch vor allem rhythmischer Sattelfestigkeit und Kreativität im individuellen Lösen sich stellender musikalischer Aufgaben. Man ahnt ja nicht, wie viele Konsonanten sich bisweilen ohne Vokal auf einer langen Note tummeln können! Vielleicht bleibt es für die Ausführenden die größte Herausforderung, sich nicht im Lachen zu verlieren, wenn es etwa im letzten Stück (5. Highspeedcyberdating) unter Maestoso (T. 108 ff.) bedeutend im Forte, mit homofonem Satz schwer dissonanzenreich heißt: Das Leben ist Scheiße, danach leise kommentiert: aber die Grafik ist geil!
Der Klavierpart übernimmt sowohl stützende als auch kommentierende Funktion, schafft die burschikos distanzlose (1. Hiiiii, welcome, bussiiiii, thx), bisweilen auch verheißungsvoll-harmlose (4. Ballade vom Männerabend) Atmosphäre, in der sich der Chor dann mit seinen verstörend profanen Textstücken etablieren kann. Für die ideal wirkungsvolle Inszenierung dieser Kabinettstücke wird ein versiertes Ensemble allein wegen der stimmlich-schauspielerischen Erfordernisse besser geeignet sein als ein größerer Chor, aber der Dirigent wird entsprechend exponierte Passagen sicher solistisch besetzen.
Bleibt die Frage: Wann fangen Sie an zu üben?
Christina Humenberger