Jaap Nico Hamburger
Chamber Symphonies Nos. 1 & 2
Ensemble Caprice, Ltg. Matthias Maute/ Orchestre Métropolitain de Montréal, Ltg. Vincent de Kort
Wer hätte gedacht, dass es so etwas gibt: Ein in Kanada lebender Niederländer – ehemals konzertierender Pianist und praktizierender Kardiologe, nun „nur noch“ Komponist und Direktor der City Opera Vancouver, von 2019 bis 2021 zudem Composer in Residence des „Mécénat Musica“ in Montreal – bekennt sich ungeniert als Programmsinfoniker. Allerdings geht es in den beiden Kammersinfonien, denen das kanadische Label Leaf Music eine bewegende Edition widmet, nicht um tönende Abbilder der Natur oder literarischer Vorlagen, sondern (im Sinne Franz Liszts) um Affektschilderung, „Erzählung innerer Vorgänge“. Schon ihre Titel Remember to Forget und Children’s War Diaries nebst abschnittweise eingefügter, programmatischer Zwischenüberschriften lassen erahnen, was den Komponisten bedrängte: die langen Schatten des Holocaust, der Totentanz geschundener Körper und gebrochener Seelen. Den Nachgeborenen zur Mahnung.
Da hätte es nichts geschadet, ein wenig mehr über sein Leben und Schaffen zu erfahren als dem edel gestylten Album zu entnehmen ist. Auch wenn sein Fotoporträt, Charakterköpfen aus Rembrandts Zeiten ähnelnd, durchaus ahnen lässt, wes Geistes Kind er sei. Um herauszufinden, dass er in Amsterdam „als Kind Auschwitz-Über- lebender“ zur Welt kam (sein Geburtsjahr fehlt allerorten), am dortigen Sweelinck-Konservatorium das Konzertdiplom als Pianist erwarb, auf Wunsch der Mutter überdies eine Facharztausbildung abschloss und es als Kardiologe zu akademischen Ehren brachte, ein Klavierkonzert und eine Oper Goldwasser komponierte und letzthin ein Bratschenkonzert, muss man das Netz durchkämmen. Immerhin lässt sich dem Beiheft entnehmen, dass seine Eltern die Martern verschiedener Konzentrationslager überlebten und seine Mutter 2010 im Alter von 89 Jahren ihren damaligen Leidensweg in Buchform beschrieb: Een hemel zonder vogels (Ein Himmel ohne Vögel).
Im gleichen Jahr reiste Hamburger mit ihr nach Jerusalem zur Buchvorstellung im World Holocaust Memorial Center. Tief beeindruckt von dem dortigen Denkmal, das an die 1,5 Millionen in Nazi-Deutschland und den okkupierten Ländern ermordeten Kinder und Jugendlichen erinnert, schuf er nach seiner Heimkehr die Kammersymphonie Children’s War Diaries – ein Nachklang auf die Tagebücher in Konzentrationslagern umgekommener Kinder: fünf Psychodramen en miniature, vom Orchestre Métropolitain de Montréal unter Vincent de Kort feinnervig skizziert.
Die Kammersinfonie Nr. 1 Remember to Forget, vom Ensemble Caprice unter Matthias Maute bläserstark in Szene gesetzt, ist eine Art instrumentales Mysterienspiel zum Gedächtnis György Ligetis (1923-2006), dessen Vater und Bruder im KZ umkamen, während die Mutter als Lagerärztin überlebte. Die beiden Sätze sind metaphorisch als Train to Death und Train to Life gedacht, die sich zuletzt zum Third Train vereinen…
Lutz Lesle