Jaap Nico Hamburger

Chamber Symphonies Nos. 1 & 2

Ensemble Caprice, Ltg. Matthias Maute/ Orchestre Métropolitain de Montréal, Ltg. Vincent de Kort

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Leaf Music
erschienen in: das Orchester 03/2021 , Seite 76

Wer hätte gedacht, dass es so etwas gibt: Ein in Kanada lebender Niederländer – ehemals konzertie­render Pianist und praktizierender Kardiologe, nun „nur noch“ Kom­ponist und Direktor der City Opera Vancouver, von 2019 bis 2021 zu­dem Composer in Residence des „Mécénat Musica“ in Montreal – bekennt sich ungeniert als Pro­grammsinfoniker. Allerdings geht es in den beiden Kammersinfonien, denen das kanadische Label Leaf Music eine bewegende Edition wid­met, nicht um tönende Abbilder der Natur oder literarischer Vorlagen, sondern (im Sinne Franz Liszts) um Affektschilderung, „Erzählung in­nerer Vorgänge“. Schon ihre Titel Remember to Forget und Children’s War Diaries nebst abschnittweise eingefügter, programmatischer Zwischenüberschriften lassen erahnen, was den Komponisten bedrängte: die langen Schatten des Holocaust, der Totentanz geschun­dener Körper und gebrochener See­len. Den Nachgeborenen zur Mah­nung.
Da hätte es nichts geschadet, ein wenig mehr über sein Leben und Schaffen zu erfahren als dem edel gestylten Album zu entnehmen ist. Auch wenn sein Fotoporträt, Charakterköpfen aus Rembrandts Zeiten ähnelnd, durchaus ahnen lässt, wes Geistes Kind er sei. Um herauszufinden, dass er in Amster­dam „als Kind Auschwitz-Über- lebender“ zur Welt kam (sein Ge­burtsjahr fehlt allerorten), am dorti­gen Sweelinck-Konservatorium das Konzertdiplom als Pianist erwarb, auf Wunsch der Mutter überdies eine Facharztausbildung abschloss und es als Kardiologe zu akademi­schen Ehren brachte, ein Klavier­konzert und eine Oper Goldwasser komponierte und letzthin ein Brat­schenkonzert, muss man das Netz durchkämmen. Immerhin lässt sich dem Beiheft entnehmen, dass seine Eltern die Martern verschiedener Konzentrationslager überlebten und seine Mutter 2010 im Alter von 89 Jahren ihren damaligen Leidens­weg in Buchform beschrieb: Een hemel zonder vogels (Ein Himmel ohne Vögel).
Im gleichen Jahr reiste Ham­burger mit ihr nach Jerusalem zur Buchvorstellung im World Holo­caust Memorial Center. Tief beein­druckt von dem dortigen Denkmal, das an die 1,5 Millionen in Nazi-Deutschland und den okkupierten Ländern ermordeten Kinder und Jugendlichen erinnert, schuf er nach seiner Heimkehr die Kammer­symphonie Children’s War Diaries – ein Nachklang auf die Tagebücher in Konzentrationslagern umgekom­mener Kinder: fünf Psychodramen en miniature, vom Orchestre Métropolitain de Montréal unter Vin­cent de Kort feinnervig skizziert.
Die Kammersinfonie Nr. 1 Re­member to Forget, vom Ensemble Caprice unter Matthias Maute blä­serstark in Szene gesetzt, ist eine Art instrumentales Mysterienspiel zum Gedächtnis György Ligetis (1923-2006), dessen Vater und Bru­der im KZ umkamen, während die Mutter als Lagerärztin überlebte. Die beiden Sätze sind metaphorisch als Train to Death und Train to Life gedacht, die sich zuletzt zum Third Train vereinen…
Lutz Lesle