Geraldine Mucha

Chamber Music

Stamic Quartet, Prague Wind Quintet, Patricia Goodson (Klavier), Vilém Veverka (Oboe), Jan Machat (Flöte)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Brilliant Classics
erschienen in: das Orchester 05/2021 , Seite 90

95 Jahre währte das Leben Geraldine Muchas, das in einer musikalischen Familie begann – ihr Vater Marcus Thomson war Bariton und Geraldines erster Kompositionslehrer –, die in London lebte und schottische Wurzeln hatte.

Arnold Bax, der Post-Romantiker, und auch zwei Lehrer an der Royal Academy of Music, William Alwyn und Alan Bush, gaben Muchas Klangsprache Perspektiven. Ein sachliches, konstruktives Moment spielt seitdem in ihrer Musik mit. Avantgardistische Haltungen, etwa herausfordernde wie schockierende und unerhörte Ordnungen, tauchten bei Mucha nicht auf. Insofern ist die Komponistin eine Repräsentantin des konsensuellen Selbstverständnisses der Britischen Inseln, das lange seine musikalische Entwicklung bestimmte.

Die Heirat mit dem Sohn des bedeutenden tschechischen Malers Alphonse Mucha, Jiři Mucha, ließ sie 1945 nach Prag übersiedeln, wo Geraldine Mucha mit kürzeren und teils längeren Abständen bis an ihr Ende lebte. Schottland blieb Zweitwohnsitz, nicht zuletzt der politischen Schwierigkeiten wegen: Der Ehemann wurde wegen Kollaboration mit den West-Alliierten als Zwangsarbeiter fünf Jahre lang in den berüchtigten Uranwerken des Landes festgehalten.

Die reüssierende Komponistin konnte sich mit ihrem ästhetischen Hintergrund beim Prager Frühling positionieren. Ab ihrem 84. Lebensjahr war sie eine Grande Dame der Republik, die für ihren 1991 verstorbenen Ehemann einen berührenden Epitaph schrieb, der hier eingespielt ist. Während der Besatzung durch die Rote Arme und ihrer Alliierten lebte sie wieder in Schottland.

Muchas Musik hat einen episodischen Charakter meist bewegten, polyfonen Aufbaus, dem eine spezifische Formidee in unterschiedlicher Charakteristik fasslicher Art zugrunde liegt; ein Parcours, auf dem sich der bildhafte, gewissermaßen farbige Klangprozess bewegt, wo sich das Formelement ausspielt. Manchmal kann man an Bartók denken: die wechselhafte, nicht stringente Oberfläche in doch gefasster Form. Es sind schottische und tschechische Idiome, die Farbe und Charakter bringen, aber keinen Folklorismus. Postromantisch kann man das nennen, aber auch neoklassisch, und an manches Stück von Strawinsky oder Poulenc denken. Melodische Dominanz, schneller Gestus, ein hohes Maß an Artikulationswechsel zeichnen ihre Musik aus. Dabei bleibt die tonikaldominantische Spannung erhalten.

Die Interpreten gehen beherzt, direkt und und manchmal vehement vor. Kein kammermusikalischer Weichzeichner ist im Einsatz. Die Darbietungen durch das Stamic Quartet – darunter ein Werk von 1970, das offensichtlich im Kontext der Niederschlagung des Prager Frühlings entstand – sind eindrücklich. Die Holzbäser-Interpretationen haben einen statischeren, etwas aufsagenden Charakter. Treffend die pianistischen Beiträge. Der Charakter der feinsinnigen und subtilen Musik kommt gut zum Ausdruck.

Bernhard Uske