Werke von Enric Casals, Tigran Mansurian, Pēteris Vasks, David Chaillou, Sulkhan Tsintsadze und Pau Casals
„Cellologue“
Simone Drescher (Cello)
Alpha und Omega: Der Name Casals steht an Beginn und Ende von Simone Dreschers Solo-Album. Doch nicht allein die „Stimme“ des berühmten Pablo (Pau) Casals ist zu hören, sondern auch diejenige seines jüngeren Bruders Enric (1892-1986). Er wirkte als Geiger, Pädagoge und arbeitete im Kontext des Orchestra Pau Casals auch mit dem Bruder zusammen. Im Gedenken an ihn komponierte Enric eine Suite für Cello solo, die Bach-Reminiszenzen mit romantischem Cantabile verknüpft. Zumal der langsame Satz – Elegia – bildet als Evokation eines (imaginären) melancholischen Volkslieds eine Brücke zum El cant dels ocells (Gesang der Vögel), jener katalanischen Melodie, die in den Händen Pau Casals’ zum Symbol der Sehnsucht nach Frieden und Freiheit wurde. Der 94-Jährige brachte sie letztmals 1971 vor dem Plenum der Vereinten Nationen zu Gehör. Simone Drescher spielt Enrics Suite mit der richtigen Mischung aus neobarockem Gestus und seliger Klanglichkeit und lässt ihr Recital würdevoll ausklingen mit einer Version des Cant, die der Cellist David Geringas erstellt hat.
Ausschlaggebend für das Motto der CD, „Cellologue“, war nicht allein die Begegnung zweier Brüder. Vögel – Sinnbilder der Freiheit und zugleich Exponenten des puren Gesangs – bilden eine gedankliche Klammer, die Pēteris Vasks’ Gramata cellam (Cello-Buch) und David Chaillous L’oiseau miteinander sowie mit Casals verbindet. In beiden Werken ist neben den Tönen des Cellos die Gesangsstimme zu hören. Chaillou (geb. 1971) wurde durch Vasks’ Werk und durch Simone Dreschers Interpretation zu Oiseau inspiriert. Eine weitere „Cellologue“-Ebene besteht im Hinblick auf nationale Musiktraditionen: Aus der Feder des Georgiers Sulkhan Tsintsadze hören wir Chonguri, benannt nach und inspiriert durch ein viersaitiges Lauteninstrument. Folgerichtig kommt in Chonguri der Cellobogen nicht zum Einsatz. Schließlich: das Capriccio des armenischen Komponisten Tigran Mansurian. Anders als der Titel vermuten ließe, handelt es sich um eine zunächst dunkle, später in lichte Sphären sich auflösende, hoch-expressive Komposition. Mansurian bezieht sich in ihr auf die Tradition armenischer Musik und zugleich – noch eine programmatische Klammer – auf Bachs Capriccio über die Abreise des sehr geschätzten Bruders BWV 992.
Ein spannendes Programm! Simone Drescher – Teilnehmerin der Bundesauswahl Konzerte junger Künstler, erfolgreich bei mehreren Wettbewerben – erfüllt mit ihrem herrlichen Grancino-Cello all diese Werke mit Geist und Leben. Ihr sonorer Celloton betört ebenso wie die Frische und die makellose Technik in den virtuosen Passagen und nicht zuletzt ihr risikofreudiger Zugriff auf die geräuschaffinen Teile der Komposition Vasks’. Alles in allem mag sich beim Hören der CD ein Eindruck von Monochromie einstellen. Dies ändert nichts an der Stimmigkeit und Qualität der Produktion … und am Rezensenten-Lob!
Gerhard Anders