Schostakowitsch, Weinberg, Kobekin

Cello & Orchestra

Anastasia Kobekina, Berner Symphonieorchester, Ltg. Kevin John Edusei

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Claves Records
erschienen in: das Orchester 10/2019 , Seite 67

Waren sie Freunde? Was verband Dmitri Schostakowitsch, den Gefeierten, der zugleich viele Repressalien erdulden musste, mit Mieczysław Weinberg (1919-1996), einem Komponisten, dessen Musik seit wenigen Jahren eine kleine Renaissance erlebt? 1943 sandte Weinberg die Partitur seiner 1. Sinfonie an Schostakowitsch. Tief beeindruckt lud Schostakowitsch den Kollegen nach Moskau ein, wo Weinberg anschließend lebte. Obgleich sich ihre musikalischen Idiome nicht sehr nahestanden, dürfte Schostakowitsch erkannt haben, dass Weinberg aus derselben Quelle schöpfte wie er selbst: Beide schrieben Musik, in denen Erfahrungen von Schmerz und Leid verarbeitet wurden. Weinberg war polnisch-jüdischer Herkunft und floh nach dem Einmarsch der Deutschen 1939 zunächst nach Minsk, später nach Taschkent. Teile seiner Familie wurden Opfer des NS-Terrors, weitere Schicksalsschläge folgten, als Stalins Geheimpolizei seinen Schwiegervater ermordete und ihn selbst vor Gericht stellte. Stalins Tod 1953 scheint sein Leben gerettet zu haben. Über viele Jahre stand Weinberg in enger Beziehung zu Schostakowitsch: Man zeigte einander neue Kompositionen, der Jüngere notierte: „Obwohl ich nie bei ihm Unterricht nahm, zähle ich mich als seinen Schüler.“ Die vorliegende CD stellt Cellowerke beider Meister unmittelbar nebeneinander. Es überwiegen die Unterschiede: Schostakowitschs 1. Cellokonzert zeigt seine Vorliebe für schneidige Rhythmik, manische Motorik, für sarkastische „Maskierung“ und jähe Stimmungswechsel. Dies scheint Weinberg eher fremd gewesen zu sein. Seine 1956 komponierte Fantasie für Cello und Orchester op. 52 präsentiert sich rundheraus romantisch. Selbst im von jüdischen Volksmelodien angeregten Allegro und zumal in den ruhigen Rahmenteilen spricht ein Komponist zu uns, der die Leidenserfahrungen mit einem offenkundigen Bedürfnis nach Harmonie verband. Dass die Musik dadurch gelegentlich ins Banale abzurutschen droht, ist Fakt. Beide Werke befinden sich hier bei der jungen russischen Cellistin Anastasia Kobekina in den bestmöglichen Händen. Ob leuchtende Kantilene, vertrackte Doppelgriffe (etwa in der Schostakowitsch-Kadenz), rasende Läufe oder rhythmische Attacke: Dieser Meisterin gelingt alles aufs Tonschönste. Bravo! Mit dem Berner Symphonieorchester und dem vielseitigen Dirigenten Kevin John Edusei stehen ihr subtil musizierende Partner zur Seite. Selten hat man den Kopfsatz des Schostakowitsch-Konzerts so entspannt als wirkliches Allegretto gehört. Als Encore enthält die CD Vladimir Kobekins Bacchants. Als Vater der Solistin Anastasia Kobekina hat dieser produktive Komponist (*1947) zahlreiche Cellowerke verfasst. Dieses neueste erweist sich als brillant instrumentierte, ungeraden Metren frönende Petitesse, die dem Soloinstrument knappe sechs Minuten uneingeschränkte Virtuosenzeit bietet. Einziger Minuspunkt einer gelungenen Produktion: Das Booklet enthält keinerlei Information zu den Werken!
Gerhard Anders