Vieuxtemps, Henry / Eugène Ysaÿe

Cello Concerto No 1 und 2 / Méditation / Sérénade

Alban Gerhardt (Violoncello), Royal Flemish Philharmonic, Ltg. Josep Caballé-Domenech

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Hyperion CDA67790
erschienen in: das Orchester 07-08/2015 , Seite 74

Warum manche Kompositionen – auch wenn sie von der zeitgenössischen Kritik wohlwollend aufgenommen werden – nach einer gewissen Zeit aus dem Repertoire verschwinden, wird ein Geheimnis der Musikgeschichte bleiben. Gerade im Fall der Cellokonzerte in a-Moll und h-Moll von Henri Vieuxtemps will dieser Vorgang so gar nicht einleuchten. Denn auch wenn sie sich vielleicht nicht durch besondere Tiefgründigkeit auszeichnen, sind sie doch beide überaus abwechslungsreich gearbeitet: Musik, die man sich sehr gern anhört. Darüber hinaus geben sie dem Cellovirtuosen reichlich Gelegenheit, sein Können zu demonstrieren. Alban Gerhardt, Spitzencellist und auf allen Kontinenten unterwegs, hat sie in der sechsten Folge der Reihe „The Romantic Cello Concerto“ bei Hyperion eingespielt – die erst zweite Aufnahme der Konzerte seit derjenigen von Heinrich Schiff.
Mit seiner unverwechselbar mitreißenden Spielweise nimmt Gerhardt den Hörer vom ersten Einsatz des lebhaften a-Moll-Hauptthemas von op. 46 an mit in die romantische Klangwelt des Belgiers. Deren Vielgestaltigkeit vermag er dank seiner breiten Palette an Ausdrucksfacetten, Klangfarben und dynamischen Nuancen, intuitiv wirkender Spannungsbögen und natürlich mittels seiner unvergleichlichen Virtuosität in allen Einzelheiten auszuformen. Reizvoll der Kontrast zwischen der schwelgerisch-kantablen Hauptmelodie des zweiten Satzes, die der Solist mit großem, unfassbar schönem Ton musiziert, und dem lebhaften dritten Satz, in den wiederum – scheinbar en passant – die anspruchsvollsten Läufe und Registerwechsel eingewebt sind.
Henri Vieuxtemps hatte bis zu seinem ersten Schlaganfall glänzende Erfolge als professioneller Violinist gefeiert – die Behandlung der Solo-Instrumente in seinen Kompositionen, denen er sich anschließend mit ganzer Energie widmete, offenbart es. Auch im etwas später entstandenen h-Moll-Konzert op. 50 findet sich eine ganze Reihe von potenziellen „Lieblingsstellen“: etwa das erste Allegro-Thema oder das sehr ernste Adagio. Eine ideale Ergänzung dieser Werke gelingt Gerhardt durch die Stücke Méditation op. 16 und Sérénade op. 22 von Eugène Ysaÿe, ist doch bei Letzterem, dem Lieblingsschüler Vieuxtemps’, der künstlerische Einfluss des Lehrers unüberhörbar. Auch er, ebenfalls ein Geiger, lässt das Soloinstrument sich singend bzw. virtuos profilieren.
Dass Alban Gerhardt, dem die eher unbekannten Kompositionen erklärtermaßen zufällig begegnet waren, sie nun einem breiteren Publikum zugänglich macht, ist mehr als eine gute Idee zur Vervollständigung einer sonst etwas „leeren“ CD: Zu bezaubernd ist ihre impressionistische Tonlandschaft, als dass sie dem Vergessen preisgegeben werden sollten; insbesondere op. 16 entwirft ein faszinierend farbenreiches Stimmungsbild.
So hat denn Alban Gerhardt, der jüngst verlauten ließ, heutige CD-Aufnahmen seien eigentlich viel zu perfekt, erneut ein rundum gelungenes Album vorgelegt. Seine Perfektion schadet ihm indes nicht: Jede einzelne der 65 Spielminuten verströmt Lebendigkeit.
Julia Hartel