Orff, Carl
Carmina Burana
Wort und Bild überfielen mich. Als Carl Orff den Nachdruck einer 1847 erschienenen Ausgabe der Carmina Burana Lieder aus Benediktbeuren in Händen hielt, der eine um 1320 angelegte Sammlung mittelalterlicher Lieder zugrunde liegt, geriet er in einen wahren Schaffensrausch. In wenigen Wochen des Jahres 1934 entstand sein Opus summum: eine einstündige szenische Kantate für drei Solisten, Chöre und großes Sinfonieorchester mit zwei Klavieren und gewaltigem Schlagwerk-Arsenal mit dem prätentiösen Titel Carmina Burana Cantiones profanae cantoribus et choris cantandae comitantibus instrumentis atque imaginibus magicis. Obwohl es keine eigentliche Handlung gibt, trug die Uraufführung 1937 im Frankfurter Opernhaus den szenischen Vorstellungen des Komponisten Rechnung.
Wobei ihm keine illustrative Mittelalter-Kulisse vorschwebte. Es kam ihm einzig darauf an, die unverwüstliche Daseins- und Weltbejahung, die aus den lateinischen und mittelhochdeutschen Liedtexten hervorbricht, in die Gegenwart hinüberzuretten. Dazu erfand er eine radikal neue, nämlich archaisch-elementare Tonsprache, der kontrapunktische Finessen ebenso fremd sind wie entwickelnde Variation oder romantische Krisenharmonik. Ein Traditionsbruch, in seiner Wucht und Unmittelbarkeit nur mit Strawinskys Le Sacre du printemps vergleichbar.
Als künstlerischer Vorwurf wie geschaffen für eine Interpreten-Truppe, wie sie der NDR Hannover zum krönenden Abschluss seines Musiktages 2008 im Großen Sendesaal zusammenbrachte: das unvergleichliche Doppel des Mädchen- und Knabenchors Hannover, die koloraturgewandte Sopranistin Heidi Elisabeth Meier, den Orff-erprobten Tenor Jean-Sébastien Stengel und den erfahrenen Lied- und Oratorien-Bariton Stefan Adam, getragen von der NDR Radiophilharmonie, die unter dem Bernstein-Schüler Eiji Oue einen bemerkenswerten Aufschwung nahm.
Von den markerschütternden Quint- und Quartsäulen des Eingangschors an, der das Lebensrad der Schicksalsgöttin Fortuna in Schwung bringt, gibt es für den Hörer kein Entrinnen. Umso weniger, als Oue ein Meister der feinen Töne ist, der dem gewaltigen Hymnus ein hauchzartes Frühlingserwachen entgegensetzt, dem der Bariton wärmende Sonnenstrahlen schenkt. Erstaunlich die Biegsamkeit und Intonationsreinheit des Mädchenchors in den Tanzszenen der Bildsequenz Ûf dem anger. Elegant ausbalanciert der Wechselgesang zwischen Knaben- und Mädchenstimmen, betörend der Coro piccolo der Altstimmen auf den alemannischen Liedtext Chume, chum geselle min.
Nicht weniger einnehmend die lebenspralle Szenenfolge In Taberna. Köstlich die karikierte Psalmodie des Baritons, nicht zu vergessen das Klagelied des gebratenen Schwans im heiklem Tenor-Falsett, komisch bemitleidet vom hohen Fagott. Innig ausmusiziert alsdann die Cours damour, eingeleitet von engelhaften Knabensopranen, bevor der Bariton verzückt Dies, nox et omnia besingt ein Preislied, das der glockenhelle Sopran erotisch knisternd beglaubigt. Wenn das Schicksalsrad am Ende hymnisch wiederkehrt, fühlt sich der Hörer so überwältigt, benommen und beglückt, als hätte er die Sternstunde in Hannover live miterlebt.
Lutz Lesle