Shostakovich, Dmitry
Cantatas
Alexei Tanovitski (Bass), Konstantin Andreyev (Tenor), Narva Boys Choir, Estonian Concert Choir, Estonian National Symphony Orchestra, Ltg. Paavo Järvi
Diese CD hat sich zum Ziel gesetzt, die raue Wirklichkeit im Leben eines großen Komponisten zu zeigen: sein Bedürfnis, Musik in seinem eigenen Land zu komponieren, während er sich wegen der Zensurbeschränkungen unter der totalen Schreckensherrschaft schöpferisch nicht frei entfalten konnte, begründet der estnische Dirigent Paavo Järvi seinen Entschluss, Werke von Schostakowitsch aufzuführen, die den ästhetischen Vorgaben Stalins zwanghaft nachkommen.
Im Lied von den Wäldern op. 81 von 1949, ein hymnischer Lobgesang auf Stalins Aufforstungsprogramm, befremden die banale Tenorarie Der künftige Spaziergang oder der im Stil der Massenlieder gehaltene Pionierchor Die Stalingrader kommen ebenso wie das hohle Pathos der Anfangs- und Schlussteile. Die Huldigungskantate brachte dem gemaßregelten Komponisten prompt den Stalin-Preis erster Klasse ein. Selbst in Fesseln vermochte er immerhin seine handwerklichen Fähigkeiten zu bewahren. Man denke nur an die kunstvolle Fuge zu Beginn des Finalsatzes Ruhm, deren Strophenthema auf einem 7/8-Metrum beruhend russischer Volksmusik nahekommt. Die zweite Kantate Über unserer Heimat scheint die Sonne op. 90 (1952), gleichfalls der Zweckdichtung eines jungen Karrieristen abgerungen und dem 19. Kongress der KPdSU gewidmet, bedachte die Prawda gleichfalls mit Lob. Eintöniger und weniger umweltfreundlich als Das Lied von den Wäldern, hat es diese Sonnenkantate allerdings noch schwerer, über ihren Anlass hinaus zu strahlen.
Von politischem Druck entlastet, atmet das Hauptwerk der CD Die Hinrichtung des Stefan Rasin op. 119 von 1964 Luft von anderem Planeten. Nach dem 10. Streichquartett entstanden, liegt dem vokal-instrumentalen Poem für Bass, gemischten Chor und großes Orchester ein Fragment des Dichters Jewgeni Jewtuschenko zugrunde. Hintergrund ist die tragische Geschichte des legendären Donkosaken-Führers, der sich den zaristischen Woiwoden gewaltsam widersetzte. Das Gedicht schildert seine Hinrichtung 1671 auf dem Roten Platz.
Der Bass-Solist ist zugleich Erzähler und die Stimme Rasins, während der Chor die wechselnden Stellungnahmen der Umstehenden dramatisch bezeugt. Die orchestralen Gesten erinnern mehrfach an die Chorsymphonie op. 113 (1962) auf das Gedicht Babi Jar von Jewtuschenko (in der Schlucht bei Kiew wurden 1941 33 000 Juden von deutschen Einsatzgruppen ermordet). Die düstere, von Wildheit und Zorn durchfurchte Kantate, die sich gegen die sowjetische Doppelmoral richtete (Kritik an der zaristischen Willkür war löblich, Empörung gegen die Parteidiktatur unbotmäßig), stieß beim Moskauer Publikum auf Begeisterung, während sich um 1964 die Liberalisierungsphase ihrem Ende zuneigte.
Im Zeichen der neuen Unduldsamkeit Russlands, der Wiederverherrlichung Stalins und imperialer Machtspiele scheint es an der Zeit, den Nachgeborenen ins Bewusstsein zu rufen, was es heißt, als Künstler ein Doppelleben führen zu müssen. Paavo Järvi, der Estnischen Nationalphilharmonie und ihrem Konzertchor sei Dank für ihren Mut, Zwiespältiges aus dem Lebenswerk von Schostakowitsch hörbar zu machen.
Lutz Lesle