Cantatas of the Bach Family

Benjamin Appl (Bariton), Christoph Hartmann (Oboe / Englischhorn), Berliner Barock Solisten, Ltg. Reinhard Goebel

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Hänssler Classic
erschienen in: das Orchester 01/2021 , Seite 69

Die Alte-Musik-Bewegung hat im Klassik-Betrieb tiefe Spuren gezogen und der Interpretation vor allem der Musik vor 1750 so deutlich den Weg gewiesen, dass es eine Weile lang scheinbar nur zwei Möglichkeiten gab, damit umzugehen: Entweder man rastete in die Spurrillen ein – oder kehrte unverrichteter Dinge wieder um. Anders gesagt: Die Ideologie der historischen oder historisch informierten Aufführungspraxis war so übermächtig, dass normale Sinfonieorchester sich lange Zeit kaum noch trauten, Bach, Händel oder gar noch ältere Musik zu spielen.
Ausgerechnet Reinhard Goebel, mit „Musica Antiqua Köln“ einer der Gründerväter der Bewegung, ist inzwischen zu einem erbitterten Gegner des „historischen Materialismus“ geworden, also der Einstellung, die dem historischen Material, sprich: Instrumentarium alleinige Wahrheit zubilligt. Unermüdlich  der 68-Jährige nach neuem Wissen um die Alte Musik und verbringt daher nach eigenem Bekunden täglich acht Stunden mit Büchern. Sein Wissen gibt er als Professor für Historische Aufführungspraxis an Studierende des Mozarteums in Salzburg weiter, wobei eine Hauptaufgabe darin bestehen dürfte, scheinbare Sicherheiten der Interpretationspraxis in Frage zu stellen. Und weil Goebel das unterhaltsam macht wie kein Zweiter, verzeiht man ihm fast jede Polemik auch gegenüber der Kollegenschaft.
Zudem redet er nicht nur, sondern handelt: Mit den Berliner Barock Solisten ist der gebürtige Siegener Leiter eines Ensembles, das Barockmusik auf höchstem Niveau – und auf modernen Instrumenten – spielt. Nicht wenige seiner Spieler sind Mitglieder der Berliner Philharmoniker. Nun haben die Berliner Barock Solisten mit Goebel eine neue CD mit Musik der Bach-Familie und erstaunlichen Entdeckungen vorgelegt. Erstaunlich, weil heute längst nicht mehr bewiesen werden muss, dass auch die Bach-Söhne komponieren konnten. Dennoch tritt hier das Verhältnis von Carl Philipp Emanuel (1714-1788), Wilhelm Friedemann (1710-1784) und Johann Christoph Friedrich (1732-1795) zum Vater in Kantaten und Sinfonien, die zur Hälfte erstmals eingespielt wurden, auf ganz neue Weise zutage.
Der aus Italien nach Deutschland heraufdrängende „galante Stil“, dem die Nachgeborenen mal mehr, mal weniger huldigten, stellte sich mit einer vermeintlichen Natürlichkeit der musikalischen Linien und Gefühle dem verkopften Codex der Barockmusik entgegen, für die der Vater stand, der (im Gegensatz zu Telemann) als Komponist plötzlich einfach nur noch veraltet zu sein schien. Hört man sich die rhythmischen und harmonischen Eskapaden in den Sinfonien Carl Philipp Emanuels und Friedemanns an, dann ist die fließende Selbstverständlichkeit der Kantate BWV 82 Ich habe genug aus der Feder Johann Sebastians eine solche Wohltat, dass einen die Rührung überkommt – umso mehr, als Benjamin Appls heller und lichter, stilsicherer Bariton hier große Wirkung entfaltet. Er ist auch ein Garant dafür, dass Johann Christoph Friedrich Bachs unter Kennern geschätzte Kantate Pygmalion ein ebenbürtiger Höhepunkt ist.
Johannes Killyen