Müller-Siemens, Detlev

… called dusk II

für Streichquartett, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2014
erschienen in: das Orchester 11/2014 , Seite 67

Detlev Müller-Siemens gehört seit Jahrzehnten zu den beständigsten deutschen Komponisten der Gegenwart. Der Hamburger des Jahrgangs 1957 studierte u.a. bei Ligeti und Messiaen, derzeit hat er eine Professur für Komposition in Wien inne. Sein umfangreicher Werkkatalog enthält in den vergangenen Jahren vermehrt Stücke, die sich auf Samuel Beckett beziehen. …called dusk ist eine bislang aus drei Kompositionen bestehende, über Besetzungs- und Gattungsgrenzen hinausgehende Werkreihe, die sich den letzten Satz aus dessen Text Losigkeit zum Motto nimmt: „Schimäre die Dämmerung die Schimären vertreibt und die andere Schummer genannte.“ Becketts innerer Monolog eines Flüchtlings zeigt eine Struktur permutierender Satzteile und Wortkombinationen, die für Müller-Siemens auch als Anregung für die Ausarbeitung von …called dusk II gedient haben könnte. Das erste Stück der Reihe für Violoncello und Klavier, eine Trauermusik für Ligeti, stammt aus den Jahren 2008/09, die Uraufführung des dritten für gemischtes Ensemble ist für Oktober 2014 angekündigt.
…called dusk II für Streichquartett wurde 2011 komponiert und im Mai 2013 vom Ensemble Wiener Collage erstmals aufgeführt. Das ca. 13 Minuten dauernde Stück ist formal dreiteilig, auf einen langen, nur kurzzeitig unterbrochenen, überwiegend aus Flageolettklängen bestehenden Hauptteil folgt dessen Auflösung in Akkorden und ein abschließendes heftiges Unisono. Der Komponist merkt an, dass er ein Chaconne-Modell verwendet, bei dem 26 Akkorde auf Flageolett- bzw. Grundtonebene permutiert werden. Dies lässt sich jedoch hörbar kaum erfahren, vielmehr setzt sich der Charakter einer in sich bewegten Statik fest, da die Figur der Spielaktion lange Zeit nahezu unverändert bleibt. Es erklingt in unmittelbarer zeitlicher Aufeinanderfolge ein gegriffener Ton und von diesem ausgehend einer seiner Flageoletttöne, zumeist als Quart- oder Terzflageolett.
Die Ausführung verlangt eine sichere Grifftechnik und eine sehr kont­rollierte Bogentechnik, da  unterschiedlicher Bogendruck gefordert ist. Erschwert wird die Umsetzung im Zusammenspiel durch permanente Komplementärrhythmik und die Bevorzugung benachbarter Töne. Es entstehen rhythmisierte Akkordflächen unterschiedlicher Länge, fast durchgehend im Piano, pfeifend, die Tendenz, dem Typischen des tradierten Klangs zu entfliehen, lässt Assoziationen zu Ligeti aufkommen.
Nach einer impulsiven Unterbrechung (ab T. 80) und Auflösungstendenzen der Anfangsstruktur folgt ein Teil, in dem einzelne durch Pausen getrennte Akkorde erklingen, die zuweilen traditionelle Harmonik aufscheinen lassen. Hier wird erneut eine komplexe komplementäre Rhythmik verwandt. …called dusk II endet in einer linearen Bewegung im fff, durchsetzt durch gleich lange Pausen, die zu einem fulminanten Abschluss führt. Erinnerungen an Messiaens berühmtes Quartett auf das Ende der Zeit entstehen hier vermutlich nicht nur zufällig. Müller-Siemens’ Stück ist heterogen, in der zeitlich-formalen Gestaltung ungewöhnlich. Es bietet professionellen Ensembles herausfordernde Aufgaben.
Christian Kuntze-Krakau

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