Rüdiger Görner
Bruckner
Der Anarch in der Musik
Musikerbiografen müssen keine Musikwissenschaftler sein. Im Gegenteil: Mit die spannendsten Komponistenbiografien wurden von Schriftstellern und Romanciers geschrieben. Ein wenig Musikwissenschaft allerdings scheint für eine profunde Dokumentation des Lebens und Schaffens eines großen Komponisten unabdingbar; das musikalische Rüstzeug für die Interpretation und Einordnung des Werks, der wissenschaftliche Ansatz, um das Leben des Gewürdigten historisch, gesellschaftlich und künstlerisch einordnen zu können.
Rüdiger Görner, emeritierter Professor für Neuere deutsche Literatur, geht einen etwas anderen Weg. Sein Buch über Anton Bruckner ist an vielen Stellen mehr ausgedachter Roman denn akribisch recherchierte Biografie. Görner schreibt spannend und lesenswert und versucht, Bruckners Leben und dessen Ringen um die großen sinfonischen und geistlichen Werke in einen historischen und kunsthistorischen Kontext zu setzen. Er tut das sehr oft, indem er Bruckners mögliche Reaktionen auf verbürgte historische Ereignisse (zum Beispiel eine Polarexpedition im späten 19. Jahrhundert) oder technische Neuerungen (Eisenbahn) und Kunstwerke (wie den Roman Die Reise um die Erde in achtzig Tagen von Jules Verne) beschreibt.
Hochspekulativ, und von Rüdiger Görner auch so gekennzeichnet, entwirft der Schriftsteller damit ein sehr lebendiges Bild des Komponisten und Menschen Anton Bruckner, das, im Gegensatz zum Untertitel der Biografie, allerdings wenig anarchisch daherkommt. Formulierungen wie „Womöglich“, „Mag sein, dass …“ oder „So mag es gewesen sein oder auch nicht“ kommen häufig in Görners Text vor, der aufgrund seiner Qualitäten, das durchaus bildliche Vorstellungsvermögen des Lesers zu stimulieren, sehr gut als Vorlage eines Filmdrehbuchs dienen könnte.
Weit weniger spekulativ, dafür jedoch mindestens genauso fantasiereich beschreibt Rüdiger Görner die Musik Anton Bruckners in dieser relativ kompakten Biografie, die auf eine vergleichsweise überschaubare Literatur- und Quellenliste zurückgreift. Görner gelingt es, die Sinfonien, die deutlich überschaubarere Kammermusik und die großen geistlichen Werke des österreichischen Komponisten mit plastischen Formulierungen sowohl hinsichtlich der Struktur als auch der Wirkung zu beschreiben. Das Verbindende der Werke wird dabei genauso konsequent herausgearbeitet wie die Identifizierung der verschiedenen musikalischen Einflüsse, die auf Bruckner gewirkt haben. Neben dem durchaus konturenstarken Bild Anton Bruckners an seinen verschiedenen Lebensmittelpunkten und auf Reisen vermittelt Görner so auch einen sehr praktischen und geradezu „sprechenden“ Hör-Führer durch das bedeutende Werk des Komponisten.
Daniel Knödler