Bernd Aulich

Köln: Brillanz gepaart mit Strahlkraft

Der Rundfunkchor des WDR feiert sein 75-Jähriges mit einer Tournee

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 12/2022 , Seite 48

Traditionsbewusst und dem Abenteuer der Moderne mit allen Fasern musikalischer Emphase zugeneigt – auf solch souveränem Niveau zeigt sich der Rundfunkchor des WDR im 75. Jahr seit seiner Nachkriegs-Gründung. Auf schiere Begleitmusik zu den beiden Sender-Orchester lässt sich das 40-köpfige Gesangs­ensemble seit Langem nicht mehr reduzieren.
Die Jubiläumstournee unterstrich das mit einem herausfordernden A-cappella-Programm. Biblische Textvorlagen des souverän mit populären Blues-Anklängen spielenden Amerikaners Aaron Copland und des eher spröden englischen Spätromantikers Charles Hubert Parry prallten auf Arnold Schönbergs frühes A-cappella-Chorwerk Friede auf Erden, das man zu den größten Herausforderungen an Klanggewalt und Stabilität eines Chores rechnen muss.
Nicht nur als Rückblende auf das Gründungs­jahr 1947 erschien Coplands in Cambridge uraufgeführte Genesis-Huldigung In The Beginning wie ein Aufschrei der Hoffnung in Zeiten der Krise und des Elends. Unter der Leitung seines Chordirektors Nicolas Fink paarte sich Strahlkraft aufs Schönste mit Brillanz und vortrefflicher Gestaltungskraft. Wie der Chorklang durch die im Halbkreis arrangierten Stimmgruppen kreist, wie er dynamisch zurückgenommen in der Schwebe verharrt und zu welchen Ausbrüchen er sich steigert – das unterstreicht den Rang dieses Chores. Auf das exponierte Mezzo-Solo verstand sich Almuth Herbst vom Gelsenkirchener Musiktheater im Revier mit voluminöser Fülle.
Charles Hubert Parry ist hierzulande bestenfalls mit seinem Chorwerk Jerusalem bekannt, das alljährlich bei der BBC Last Night of the Proms erklingt. Seine 1918 im Zeichen des Ersten Weltkriegs und seiner sinnlosen Opfer vollendeten Songs of Farewell (Lieder des Abschieds), sechs Choral-Motetten, verlangen einem Chor das Äußerste an Ausdrucksintensität ab. Wunderbar homogen noch im Piano, singt der Rundfunkchor ausgedehnte Fermaten voll aus.
Bei der Wiener Uraufführung 1911 wurde das Werk noch mit stützendem Orchester gesungen. Nun meistert der WDR Rundfunkchor Schönbergs Klangflächen fluoreszierend a cappella – imponierend. Wuchtig wirkten im Essener Dom mit apartem Hall die Improvisationen des Domorganisten Sebastian Küchler-Blessing.
Der akkurat und stimulierend dirigierende 44-jährige Schweizer Nicolas Fink ist der siebte Chordirektor des Kölner Ensembles nach dem raritätensuchenden Gründungsdirektor Herbert Schernus, dem auf Eigenständigkeit bedachten ehemaligen Wiener Staatsopern-Chorchef Helmuth Froschauer, dem ehemaligen Dortmunder Generalmusikdirektor Anton Marik, dem auf radikale neue Klangerfahrungen versessenen Rupert Huber und dem Schweden Stefan Parkman. Luigi Nono, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, Krzysztof Penderecki und Luciano Berio haben für diesen Chor komponiert.