Xaver Paul Thoma

Briefe an…

25 Fantasien für Bratsche Solo op. 193 (xpt)

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Ikuro, Stuttgart 2021
erschienen in: das Orchester 09/2021 , Seite 78

Warum nicht anstelle von Liedern ohne Worte einmal Briefe ohne Worte schreiben? Der Komponist und Bratschist Xaver Paul Thoma hatte die Idee, kurze Fantasien für Bratsche solo als Briefe an „langjährige, liebe Kolleginnen und Kollegen“ zu komponieren. Manche dieser Briefe tragen nur einen Vornamen, viele auch den vollen Namen; die Empfänger lassen sich also identifizieren, darunter Bratschenkollegen in Orchestern, in denen Thoma mitwirkte. Manche erinnern an allzu früh Verstorbene, beispielsweise an Friederike Baltin, eine Kollegin aus dem Württembergischen Staatsorchester.
Briefe zu veröffentlichen ist immer heikel, da sie im Grunde eine private Angelegenheit sind. Allerdings geben Worte viel mehr als Töne preis. Thoma versucht, wie er im Vorwort schreibt, „die Eigenheiten des Empfängers darzustellen und mit musikalischen Zitaten die Vorlieben der Empfänger“ anzudeuten. So erinnert der Brief an den 2004 verstorbenen Bratschisten des Álvarez-Quartetts Bodo Hersen an Tristan und Isolde und bezieht seine musikalische Idee aus der Chromatik des Tristan-Akkords.
Konkret schafft der Komponist eine Verbindung zwischen dem Brief und dessen Empfänger, indem er die Töne und Intervalle aus den Buchstaben des Namens, die einen Ton bezeichnen, entnimmt. Wie er das bewerkstelligt, gibt er zumeist zu Beginn der Komposition an. Aus Bodo Hersen wird so die Tonfolge b-d h-e-es-e. Auf diese Weise gewinnt Thoma plastische Motive, die selbstverständlich nicht der herkömmlichen Tonalität entsprechen. Die Themen sind dadurch sehr charakteristisch. Allerdings können Hörer, die die Empfänger nicht kennen, nur rätseln, was sie über deren Eigenheiten aussagen. Wirkte Madeleine Przybyl auf den Komponisten ein wenig sprunghaft und kapriziös? Die aus dem Namen gewonnene Anfangsmelodie wechselt nämlich zwischen großen Sprüngen, einem Sforzato mit künstlichem Flageolett, sich aufbäumenden Trillern und einem retardierenden und fragenden Ausklingen in langen Tönen.
Die aus den Empfängernamen gewonnenen Themen verarbeitet Thoma frei als Fantasie. Dabei zieht er alle Register moderner Bratschenspieltechnik, ohne dabei rücksichtslos gegen den Interpreten zu sein; dann da er selbst ein Violavirtuose ist, weiß er bestens, was auf der Bratsche möglich ist und ihren Klang auf vielfältigste und erstaunlichste Weise zum Erlebnis werden lässt.
Diese Briefe sind nur fortgeschrittenen Violaspielern zu empfehlen. Wer sich in sie vertieft, kann sein Gefühl für das Klangspektrum der Bratsche erweitern und lernt blitzschnelles Umschalten zwischen verschiedensten Artikulationsmöglichkeiten. Zugleich sind diese Kompositionen auch Etüden für moderne Spieltechniken. Trotz ihrer Intimität sind sie für das öffentliche Konzert geeignet: Sie bieten dem Publikum eine höchst geistvolle Unterhaltung, vor allem, wenn die Empfänger bekannt sind oder selbst ihren Brief vorspielen.
Franzpeter Messmer

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