Kremer, Gidon
Briefe an eine junge Pianistin
Bereits in seinen Publikationen Obertöne (1997) und Zwischen Welten (2003) erweist sich der Geiger Gidon Kremer als aufmerksamer Beobachter, der sich selbst in Relation zum gegenwärtigen Musikleben betrachtet und dabei auch sein Verhältnis zu den von ihm geschätzten Künstlern Interpreten wie Komponisten einschließt. In seiner jüngsten Publikation geht er einen Schritt weiter, indem er einen sezierenden und kritischen Blick auf den heutigen Kulturbetrieb und dessen Funktionsmechanismen wirft. Dies geschieht aus dreierlei Perspektiven: Im Zentrum stehen die zehn Briefe an eine junge Pianistin, die sich, wie der Klappentext verrät, dem Gespräch mit einer jungen, hochtalentierten Pianistin nach einem Konzert verdanken und mit Blick auf die Vermarktung von Interpreten um die Integrität der Kunst, die Verlockungen der Karriere und die Gefahr des Verrates am eigenen Talent kreisen.
Im abschließenden Dekalog eines Interpreten vertieft und variiert Kremer dieses Thema in Anlehnung an die zehn Gebote durch Bezug auf eine Reihe weiterer, selbst erlebter Beispiele. Zwischen diesen beiden gewichtigen Teilen findet sich als eine Art Intermezzo die satirische Albtraumsymphonie als fingierte Werbeanzeige eines Orchesters, das nurmehr schlechte Leistungen möglichst unbegabter Musiker in den Mittelpunkt stellt und damit nach der Ära der Perfektion bei seinen Abonnenten große Erfolge feiert. Die in allen Texten spürbare Kritik an einer mit Perfektionswahn gepaarten Lust an der Oberfläche wird dort am schärfsten, wo Kremer Belege für die Absurdität (un)künstlerischen Handelns anführt, so beispielsweise im Hinblick auf die Allianz von Musikern und Politikern oder in Bezug auf die Praxis einer ungenannten jungen Kollegin (die man als aufmerksamer Beobachter der Szene freilich identifizieren kann), die sich ihre Interpretationen anhand von CDs zusammensucht.
Bei der Lektüre kristallisiert sich rasch die Darstellung eines idealen Gegenbilds zu solchen Erscheinungen heraus: nämlich jenes des unbestechlichen und aufrechten Künstlers, der sich nicht den Zwängen und Verlockungen der Vermarktung beugt. Kremer ist ganz dem Ethos eines Kunstverständnisses verpflichtet, das den Interpreten als Vermittler von Werten sieht eine Tätigkeit, die an die individuelle und eigenverantwortliche Auseinandersetzung mit überzeitlich gültigen Werken gebunden ist. Auch wenn man diese Meinung nicht unbedingt teilen mag, bleiben Kremers Ausführungen in vielerlei Hinsicht scharfsinnig und verlangen Respekt ab. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass der Geiger aus einem reichhaltigen Fundus eigener Erfahrungen schöpft, sondern auch damit, wie er seit gut eineinhalb Jahrzehnten einen großen Teil seiner eigenen Karriere gestaltet lebt er doch in den seit 1997 gemeinsam mit der Kremerata Baltica praktizierten Konzertformen eine kritische Haltung gegenüber dem Wahnsinn einer auf die Vermarktung von Personen fixierten Interpretenkarriere vor.
Stefan Drees