Michael Pitz-Grewenig

Bremen: Zusammenhänge aufzeigen

Das Eröffnungskonzert der Bremer Philharmoniker im neuen Areal der Tabakfabrik

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 12/2022 , Seite 50

Viel Positives aus dem hohen Norden! Nicht nur, dass Werder Bremen wieder in der ersten Bundesliga spielt, die Bremer Philharmoniker konnten nun endlich nach vielen Jahren der Kompromisse und des Suchens in ihr neues Domizil übersiedeln. Die ursprünglich riesengroße Halle 1 auf dem früheren Areal der Tabakfabrik Martin Brinkmann in Woltmershausen wurde geschickt umgebaut. Zahlreiche Räumlichkeiten für große Konzerte, aber auch für kleinere Veranstaltungen, Workshops, Proberäume, ein Tonstudio bieten hervorragende Arbeits­bedingungen, wie Generalmusikdirektor Marco Letonja schwärmt.
Das freute auch Kulturstaatsrätin Carmen Emigholz: „Ich gratuliere den Bremer Philharmonikern sehr herzlich zu ihrem neuen und so ansprechenden wie funktionalen Domizil hier im neuen Tabakquartier. All das vermittelt eine kaum zu übersehende Aufbruchsstimmung, die Lust auf neues musikalisches Erleben macht.“ Bei allen Lobeshymnen stimmt es aber schon nachdenklich, dass die traditionsreichen Bremer Philharmoniker, das offizielle Orchester der Freien Hansestadt Bremen, dessen Anfänge bis 1820 reichen, so lange auf adäquate Proberäume warten musste. Letztendlich ist das neue Domizil der Initiative der Unternehmer Joachim Linnemann und Clemens Paul zu verdanken. Der Saal soll künftig auf Wunsch der Staatsrätin „Joachim-Linne­mann-Saal“ heißen, um den Unternehmer, der kurz vor der Eröffnung überraschend verstor­ben ist, für sein unermüdliches Engagement zu ehren.
Intendant Christian Kötter-Lixfeld und Presse­sprecherin Barbara Klein sehen in den neuen Räum­lichkeiten eine weitere Möglichkeit auf ihrem Weg, das Orchester noch stärker im Bewusstsein einer Öffentlichkeit zu positionieren und Grundlage für neue Möglichkeiten der Musikvermittlung zu geben. Denn, so Kötter-Lixfeld, das Hörverhalten des Publikums hat sich verändert. Auch die Musikwerkstatt, eine wichtige Säule der Musikvermittlung, hat im Tabakquartier nicht nur einfach neue Räume bekommen. Es gibt auch neue Angebote. So kann man nun nicht nur alle Orchesterinstrumente ausprobieren, sondern sich damit auch direkt auf eine kleine Probebühne begeben. Ein mobiles Tonstudio ermöglicht die Aufnahme und auf Wunsch sogar die Verlinkung zum eigenen Social Media Account. Im Klangforum lassen sich analoge Klänge und deren Entstehung erforschen sowie digital an audiovisuellen Stationen einzelne Instrumentenregister aus großen orchestralen Einspielungen herausfiltern – spielerisch, spannend, niederschwellig.
Für Generalmusikdirektor Marko Letonja ist die Kommunikation mit dem Publikum ein wichtiges Thema: „Wie erreichen wir mit unserem Können das Publikum? Wir möchten ungeahnte Perspektiven bieten, Zusammenhänge aufzeigen, festgefahrene Denkstrukturen hinterfragen, vielleicht auch mal irritieren – das von uns zusammengestellte Programm bietet einen Sound­track zu den großen Themen unserer Zeit.“
„Wie vielleicht nie zuvor in den letzten Jahrzehnten sind wir plötzlich mit existenziellen Fragen konfrontiert – Pandemie, Klimawandel, Krieg, das macht was mit uns Menschen. Entsprechend steigen die Erwartungen an die Kultur, an Kunst und Musik“, so der scheidende Intendant Christian Kötter-Lixfeld. Dafür gibt es nicht nur eine spannende Programmgestaltung, sondern viele gute Ideen, mit Menschen in Kontakt zu kommen. Eine davon ist das neue Format „PhilX”, vier Veranstaltungen jeweils an Freitagabenden. Die Feuerzangenbowle mal in einer anderen Fassung und die Bratsche mal jazzig gespielt. Interaktion ist das Ziel.
Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem Klimawandel. „Mit ihrem neuen Programm nehmen die Philharmoniker die aktuellen Schwingungen und Stimmungen in der Gesellschaft einfühlsam auf, wirken gleichsam wie Seismografen unserer Zeit. Denn es geht um nichts Geringeres als um die Bewahrung unseres Planeten für Mensch und Natur. Und vor dem Hintergrund des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine geht es um ein friedvolles und frei von Repressionen gelebtes Miteinander“, so Kulturstaatsrätin Carmen Emigholz. Hierzu passt hervorragend der Schwerpunkt Dmitri Schostakowitsch. Marko Letonja lenkt im Februar mit dem Festival „Phil intensiv – Schostakowitsch!“ den Fokus auf diesen von einem diktatorischen Regime unterdrückten Komponisten, stellvertretend für Millionen Menschen, die in Unfreiheit und Krieg leben müssen. Gleichzeitig steht dieser Schwerpunkt unter der Thematik der Entwicklung der Sinfonie, die seit vier Jahren in der Programmgestaltung verfolgt wird.
Bazon Brocks großartiger Imperativ „Man muss also das Publikum befähigen, das Gezeigte zu bewerten, indem man es auch das Nicht-Gezeigte kennen lernen lässt!“ scheint auch in dem Sinne für die Konzerte der Bremer Philharmoniker zu gelten, dass man das selten zu Hörende präsentiert, um zu zeigen, was es neben dem Üblichen noch Spannendes gibt. Das 10. Philharmonische Konzert („Betörende Verführung“) umfasst Kompositionen György Ligetis, Peter Eötvös’ und Gustav Mahlers. Das 12. Philharmonische Konzert („Die große Freiheit“) beendet die Konzertsaison mit Werken von Jonny Green­wood, Christian Lindberg und Gustav Holst.
Doch zurück zur Eröffnung. An zwei Tagen wurde gefeiert! Für das Eröffnungskonzert hatte Marko Letonja ein abwechslungsreiches Programm zusammengestellt, das den hohen Stand der Bremer Philharmoniker unter Beweis stellte. Deutlich zu hören bei der bekannten „Jazz-Suite Nr. 2“ Dmitri Schostakowitschs, die – um ein Beispiel herauszugreifen – nicht zum flachen „Walzer-Zerfall“ mit bitonalem Attacken-Ende verkam. John Adams’ Short Ride in a Fast Machine wurde mit einem atemberaubenden Minimal-Music-Drive und hohem Entertainment-Faktor präsentiert. Der folgende Tag der offenen Tür bot ein buntes Programm für Groß und Klein, aber auch mit Kompositionen von Olivier Messiaen und Igor Strawinsky „Ernsthaftes“.