Werke von York Bowen und William Walton

Bratschenkonzerte – Viola Concerts Konzert in c-moll op. 25/Konzert in a-Moll

Diyang Mei (Viola), Deutsche Radio Philharmonie. Ltg. Brett Dean

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: SWR/Naxos
erschienen in: das Orchester 2/2025 , Seite 72

Leidige Vorurteile: Noch immer begegnen wir der Ansicht, England sei eine Musiknation zweiten Ranges – und dann noch die Sache mit dem „Stiefkind“ Bratsche. Beides wird von der vorliegenden Neu­pro­duk­tion grandios hinweggefegt!
Der große englische Bratschist Lionel Tertis war indes zurückhaltend, zeitgenössischen englischen Komponisten Kompositionsaufträge zu erteilen. Erst nachdem ihm internationale Koryphäen wie Glasunow und Ravel Körbe gegeben hatten, wandte er sich an Landsleute wie York Bowen (1884-1961) und William Walton (1902-1983). Deren Bratschenkonzerte entstanden im Abstand von gut zwei Jahrzehnten (1907, 1929), doch kann von gemeinsamer Stilistik kaum gesprochen werden: Bowens Musik ist tief im spätromantischen Idiom verankert, gelegentliche Ausflüge in die Welten Debussys oder Strauss’ inklusive. Früh machte Bowen Karriere als Pianist, auch seine ersten Kompositionen ernteten Beifall. Der 1. Weltkrieg bildete eine Zäsur: Seine Musiksprache war fortan nicht mehr up to date. Erst in unseren Tagen kommt es zu dem einen oder anderen Revival. Ganz anders Walton: Eine halbe Generation jünger, nahm er die Impulse der 1920er Jahre (vom Surrealismus über Hindemith bis zu Schönberg) dankbar auf und entwickelte daraus eine sehr charakteristische Handschrift.
Gleichwohl tendierte das musikalische Naturell des Widmungsträgers Tertis zur romantischen Seite: Das hoch-expressive und zugleich effektvolle Bowen-Konzert war nach seinem Geschmack. Zu Walton ging er auf Distanz: Kein Geringerer als Paul Hindemith sprang ein und spielte 1929 die Uraufführung des Werks unter der Leitung des Komponisten. Später entschuldigte sich Tertis für die Zurückweisung des Werks: „I admit, with shame and regret, that I declined when the composer offered me the première.“
Diyang Mei – seit 2022 erster Solobratscher der Berliner Philharmoniker, Preisträger unter anderem des ARD-Wettbewerbs – spielt die Solopartien der beiden Konzerte nicht nur ungemein souverän, sondern mit Passion und Hingabe. Alle technischen Hürden – das Bowen-Konzert geht bisweilen „weit hinauf“! – meistert er spielerisch. Wir vernehmen einen leuchtenden, ungemein facettenreichen, zwischen höchster Intensität und zarter Lyrik changierenden Bratschenton, Attacken werden risikofreudig ausgespielt, große Melodiebögen bis in die letzten Sechzehntelnoten erfüllt. Eine exzellente Aufnahmetechnik trägt dazu bei, dass das groß besetzte Orchester nie Gefahr läuft, die Bratsche zuzudecken. Die blendend disponierte Deutsche Radio Philharmonie wird geleitet von Brett Dean: Längst als Dirigent und Komponist renommiert, begann Dean seine Karriere dort, wo Diyang Mei heute wirkt: als Bratschist der Berliner Philharmoniker.
Eine großartige CD und – sollte es dessen noch bedürfen – ein Plädoyer für Bratschenmusik made in Britain.
Gerhard Anders