Peter Buske

Brandenburg: Assoziationsreiche Erkundungen

Wilfried Krätzschmars 6. Sinfonie „Nachtstück“ als Auftragswerk der Brandenburger Symphoniker uraufgeführt

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 02/2023 , Seite 57

Es dürfte wohl nicht oft vorkommen, dass unmittelbar vor Konzertbeginn dem Publikum für sein Erscheinen und seinen Mut gedankt wird, Unbekanntes goutieren zu wollen. Schließlich sei es „nicht ganz leicht, sich mit neuer Musik zu beschäftigen“, so Dirigent Peter Gülke. Als Ex-Chef der Brandenburger Symphoniker bringt er, nach mehrfacher, coronabedingter Verschiebung, Ende November 2022 beim 5. Sonderkonzert „Auf neuen Wegen Neues wagen“ die 6. Sinfonie von Wilfried Krätzschmar als Auftragswerk des Orchesters zur Uraufführung. Ihr Untertitel Nachtstück ziele, so der anwesende Komponist bei seinem Statement, „auf das Dunkle und Abgründige mit seinen zerstörerischen Auswüchsen im menschlichen Miteinander.“ Die Zeichnung Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer von Francisco Goya habe ihn dazu angeregt, mit dieser Sinfonie vor den Verwahrlosungserscheinungen der Gesellschaft und militärischer Gewalt zu warnen und zu mahnen: „Mit einer Musik der Bestürzung, des Zornes und des Mahnens, aber auch der Hoffnung.“
Sie ist, wie Gülke zuvor verbal und mit kurzen Vorspielen erläutert, als ein großes Rondo angelegt, das sich spiralförmig aufschraubt und aus zwei Hauptteilen besteht. Nach einer Introduktion aus Paukendröhnen sowie leisen Wirbeln auf kleiner und großer Trommel – gleichsam als herannahendes Unheil – bricht der erste Teil als ein chaotisches Orchestertutti mit infernalischen Klangmassierungen aus Donnerblech und reichlich Schlagwerk herein. Die präzise Zeichengebung des Dirigenten bringt das vulkanische Wühlen mit seinen quasi magmatischen Eruptionen, dunkelfarbigem Ascheregen und blitzgrellen Dissonanzen in eine zielstrebige Abfolge. Diese Klang­apokalypse tritt viermal mit stets zunehmender Ausdehnung auf. Im Gegensatz dazu steht der zweite Teil, dreimal erscheinend und von bleischwerer Klage als Ausdruck bodenloser Verzweiflung geprägt.
Zwischen diesen Hauptteilen stehen fünf bildhafte Episoden als Metaphern der Abwesenheit von Vernunft: verkümmerte Menschlichkeit, Gewissenlosigkeit, Militanz. Doch es finden sich auch Szenen der Trauer und Klage, die durch das Englischhorn-Zitat aus Berlioz’ Symphonie fantastique berührende Gestalt annehmen. Erneut bricht brutales Stampfen aus, das sich schließlich als roboterartige Akkordkanonade entlädt. Nach einem alles zermalmenden Schlag ertönen glockenartige Akkordsäulen als ein hoffnungsvolles Memento. Als souveräne Sachwalter der gedankentiefen und assoziationsreichen Novität dürfen sich der Komponist, Peter Gülke und die Brandenburger Symphoniker über anhaltenden Beifall freuen.
Im inhaltlichen Kontext zur Nachtstück-Sinfonie steht die eingangs erklingende Ouvertüre zum Trauerspiel Coriolan op. 62 von Ludwig van Beethoven. In ihr spiegelt sich der dramatische Konflikt zwischen dem aggressiv-verbohrten römischen Feldherrn Coriolan und den ihm mutig gegenübertretenden Frauen (Mutter und Gemahlin): Sie wollen den zu den Feinden übergelaufenen Coriolan dazu bewegen, die Belagerung seiner Vaterstadt aufzugeben. Vergebens. Er stürzt sich in sein Schwert. Ein packend und kontrastreich musiziertes Mini-Drama.
Als einen „weiblichen Beethoven“ bezeichnete man einst die Komponistin Emilie Mayer, der in dieser Spielzeit nicht nur die Brandenburger Symphoniker anlässlich ihres 140. Todestages ein wohlverdientes musikalisches Denkmal setzen. In ihrer abschließend musizierten 1. Sinfonie c-Moll zeigt sich klassisches Formgefühl, romantisch geprägte Fantasie, dynamischer Kontrast und modulatorisches Geschick. Auch hier frönt der Dirigent seinem Hobby, zuvor ausgiebig über Werk und Person zu informieren.