Brahms Reinecke Draeseke
Welch ein Glück für Brahms und die Nachwelt, dass der kunstsinnige “Theater-Herzog” Georg II. von Sachsen-Meiningen den Dirigenten Hans von Bülow nach Meiningen lockte, um die Herzogliche Hofkapelle auf Hochglanz zu bringen. Bülow lud Brahms ein, mit ihr sein im Sommer 1881 entstandenes 2. Klavierkonzert zu probieren: Grundstein einer fruchtbaren Freundschaft mit “den Meiningern”, deren Soloklarinettist Richard Mühlfeld von Brahms scherzhaft “Fräulein Klarinette” genannt den Meister zu einer späten Schaffensblüte inspirierte.
Von Mozart wach geküsst, hatten Weber, Spohr und Schumann die Klarinette zur Botschafterin des Musikalisch-Poetischen erhoben, bevor sie zumindest kammermusikalisch verstummte. Die wunderbare neue Stimme, die Brahms ihr verlieh, ist fonografisch reich dokumentiert. Ein weißer Fleck hingegen ist die Klarinettenliteratur “um Brahms herum”. Was Kilian Herold nach fünf ergiebigen Jahren in der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen seit vergangener Spielzeit Soloklarinettist des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg und seinen israelischen Klavierpartner Amir Katz auf den Gedanken brachte, das musikgeschichtliche Umfeld der Brahms-Sonaten zu erforschen. Wobei sie auf zwei in zeitlicher Nähe entstandene Klarinettenwerke stießen: höchst ansprechende Kammermusik von Komponisten, mit denen Brahms auf gutem Fuße stand.
Anstatt wie üblich die erste seiner beiden Sonaten op. 120 (1894) einzuspielen, entschieden sie sich für die (seltener gespielte) zweite in Es-Dur. Auch wenn die komponierenden Zeitgenossen den Wiener Meister, dem die Klarinettisten zudem das wunderbare, im Sommer 1891 in Bad Ischl entstandene Werkpaar verdanken (das eher asketische Trio op. 114 und das eingängigere Quintett op. 115), nicht vom Gipfel des Parnass stürzen der bedeutende Komponistenmacher und Gewandhauskapellmeister Carl Reinecke, der das vervollständigte Deutsche Requiem in Leipzig erstaufführte, und der Dresdener Konservatoriumslehrer und abtrünnige “Neudeutsche” Felix Draeseke, den Brahms nebst Bruckner als sinfonischen Rivalen einstufte: Sie nehmen den Hörer auch heute noch für sich ein.
Jedenfalls wenn ein so fabelhaftes, leidenschaftlich musizierendes Duo wie Katz und Herold sich ihrer annimmt; mithin “einen anderen Blick” auf Brahms Spätwerke gewinnt und vermittelt, wobei sich einmal mehr erweist, dass Meisterwerke nicht vom Himmel fallen. Vielmehr entwachsen sie einer kulturellen Humusschicht.
Draeseke schrieb seine B-Dur-Sonate 1887, also vor Brahms “Klarinettenjahren” 1891 und 1894. Und zwar für den Soloklarinettisten der Semperoper, während Carl Reinecke sein 1901 gedrucktes Opus 256 Introduzione ed Allegro appassionato ebenfalls dem Meininger Solisten Mühlfeld zudachte. Entsprechend virtuos nutzt er dessen Spielfertigkeit und die Charakteristik der Registerfarben. Im Gegensatz zur unorthodoxen Formgebung und “entwickelnden” Variationstechnik, die Brahms Es-Dur- Sonate aufweist, mutet Draesekes Klarinettensonate eher klassizistisch an. In seiner poetischen Freiheit, seinen Stimmungsschwankungen verweist Reineckes Vortragsstück dagegen auf Robert Schumann.
Lutz Lesle