Boom of the Tingling Strings
Bemerkenswertes trug sich im Jahr 1969 in der Royal Albert Hall in London zu. Nichts weniger als The best of both worlds fand sich zusammen, wie es der Kommentator der BBC-Aufzeichnung des Konzerts ausdrückte. Rockmusik, vertreten durch Deep Purple, und Sinfonische Musik, vertreten durch das Royal Philharmonic Orchestra, wagten im Concerto for Group and Orchestra die Liaison dangereuse. Jon Lord, Organist der bereits weltberühmten Rockband, hatte die Grenzüberschreitung riskiert. In den darauffolgenden Jahren trieb er mit der Gemini-Suite und Sarabande die Vermischung von Rockidiom und Klassik (und Barock) weiter voran. So finden sich etwa auf dem Studioalbum Beyond the notes neben Songs auch ein De profundis (in dem das Bassfundament des legendären Child in time auftaucht) und das Telemann-Experiment.
Noch weiter ins Feld der Klassik (im umfassenden Sinne) begab sich Lord, dessen Markenzeichen als Rockorganist ausschweifende Soli auf der Hammondorgel waren, im 2002 entstandenen Boom of the Tingling Strings für Klavier und Orchester. Hier verzichtet Lord ganz auf Rockingredienzen, es gibt kein Schlagzeug, keine E-Gitarre, keinen E-Bass. Das Orchester ist vielmehr besetzt wie zum Beispiel die Konzerte von Prokofjew, allerdings mit erheblich farbigerem Schlagwerk.
Und auch kompositorisch ist Lord nicht mehr am Rock interessiert. Wie Ravel oder Gershwin lässt er jetzt jazzige und folkloristische Elemente in eine sinfonisch gearbeitete Musik einfließen. Dass Jon Lord kompositorische Ambitionen hat, spürt man sofort im Beginn des ersten Satzes, einem Adagio. So, wie man hinter dunstigem Morgennebel eine Landschaft mehr ahnt als sieht, bleibt diese Musik auf reizvolle und fantasievolle Art im Unbestimmten. Streicherfiguren huschen vorbei, grundiert von Harfen- und Paukentremoli nebst hingetupften Celestaklängen. Raunend erhebt sich wenig später ein Thema in den Streichern, dessen vorthematische Offenheit sich auf jede Menge Vorbilder in der Musikgeschichte der Spätromantik berufen kann.
Die vier Sätze folgen ohne Pause aufeinander, sodass sich insgesamt die Form einer sinfonischen Dichtung mit Klavier ergibt. Auf das Adagio folgt ein leichteres Listesso tempo, das über weite Strecken mit einer verschleiften Jazzfigur spielt; ein weiteres Adagio, das einer Wanderung durch eine Seelenlandschaft gleich; sowie ein quirliger Finalsatz von optimistischer Grundhaltung. Der Klavierpart verlangt vom Pianisten technische Brillianz wie in Klavierkonzerten eines Liszt oder Prokofjew.
Der Titel (auf deutsch etwa Im Brausen der rauschenden Saiten) spielt auf das 1918 geschriebene Gedicht Piano von D. H. Lawrence an, der darin eine Kindheitserinnerung verklärt. Daraus leitet sich auch der bisweilen nostalgische Ton der Musik her. Nun ist das Werk im Schott-Verlag als Studienpartitur erschienen, und der große Improvisator Lord, gestorben 2012, hat endlich auch einen Platz im Pantheon der gedruckten Musik gefunden.
Mathias Nofze