Lord, jon

Boom of the Tingling Strings

für Klavier und Orchester, Klavierauszug für 2 Klaviere

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2015
erschienen in: das Orchester 03/2016 , Seite 74

Jon Lord (1942-2012), bekannt als der großartige Hammond-Organist von Deep Purple, hat sich immer auch in anderen Musikrichtungen ausgelebt. Seine Vorlieben schlossen neben Rock und Klassik auch Jazz und Folk ein. Er komponierte mehrere Cross-over-Werke mit großem klassischen Orchesterapparat, so das Concerto for Group and Orchestra (UA 1969), eine eigenwillige Kombination klassisch-orchestraler Klänge mit denen der Hammond-Sound-geprägten Rockband Deep Purple. Im Jahr 2008 entstanden das Durham Concerto für Orchester und vier Solo-
instrumente sowie auch das Klavierkonzert Boom of the Tingling Strings. Diese Komposition wurde inspiriert von einem Gedicht des Engländers D.H. Lawrence (1885-1930), einer nostalgisch verklärten Erinnerung des Dichters an die Kindheit. Es beschreibt die Eindrücke eines unter dem
Flügel sitzenden Kindes, das seiner Mutter beim Klavierspielen lauscht…
Jon Lord präsentiert das Klavier in diesem Konzert mit der reichen Vielfalt seiner klanglichen Möglichkeiten; virtuos klingelndes Laufwerk, spritzige Rhythmen und bombastische Akkordpassagen stehen hier dicht beieinander. Das Konzert mit vier ineinander übergehenden Sätzen trägt epische Züge und ist ästhetisch ein am ehesten im Filmmusikgenre anzusiedelndes Werk. Nach einer märchenhaften, sehr langsamen Einleitung beginnt das Klavier im ersten Satz mit einer unschuldigen, hymnenartig vorzutragenden Sequenz, um sich später mit glitzernden Arpeggien naiver Spielfreude hingeben zu können.
Der zweite Satz ist im Charakter leicht und unbeschwert, er erfordert Lässigkeit und Erfahrung mit der Jazzphrasierung vom Pianisten. Sentimentale Melodielinien im freien pianistischen Tonsatz lassen eine scheinbar improvisierte Stimmung im dritten Satz entstehen. Das Finale verlangt vom Pianisten brillante Klarheit in oftmals nur einstimmigen Sechzehntel-Passagen im minimalistischen Duktus. Dem gegenüber stehen rhythmisch fordernde Bläserakkordpassagen, alles ist dabei sehr transparent gehalten. Das Klavier hat im Laufe des Satzes alle nur denkbaren satztechnischen Strukturen zu bewältigen, darunter auch typisch klassische, hochvirtuose Skalen- und Akkordpassagen. Seine Spielfreude kann ein Pianist in diesem Konzert allemal ausleben.
Der Dirigent der Uraufführung, Paul Mann, arrangierte das Konzert für zwei Klaviere. Dieser 2015 bei Schott nachträglich zur Partitur erschienene Klavierauszug ist der Übersichtlichkeit halber oft in drei Systemen geschrieben, was sich als Hilfe zum Einstudieren gerade für rhythmisch kompliziertere Passagen sehr gut eignet, und mit genauen Instrumentationsangaben versehen. Er kann aber naturgemäß die Atmosphäre des Orchesterklangs nicht ersetzen, da gerade die von Lord bevorzugten Effekte wie der Einsatz von Celesta, Harfe oder Crotales über ausgehaltenen Bläserakkorden oder auch begleitende Streicherpizzicati pianistisch schwer darzustellen sind. Das Werk ist sehr abwechslungsreich, leicht zu hören, komplett tonal und auf eine effektvolle, jedoch recht vordergründige Weise durchaus unterhaltsam, im passenden Rahmen aufgeführt vermutlich ein Publikumsrenner.
Anja Kleinmichel