Wynton Marsalis
Blues Symphony
Detroit Symphony Orchestra, Ltg. Jader Bignamini
Als Gründer und Leiter der Organisation Jazz At Lincoln Center sowie des Jazz At Lincoln Center Orchestra und kleinerer Formationen, als Pädagoge und Komponist von Werken für klassisches Orchester setzt Wynton Marsalis mit der Blues Symphony um, wovon Gunther Schuller, Jazzfreund und Hornist der New Yorker Metropolitan Opera, 1957 träumte: die Fusion der beiden Welten Jazz und Klassik zu einem „Third Stream“.
Die „Blues Symphony“ erzählt die Geschichte des Blues und indirekt auch der Nachkommen der Sklaven mit der Klangsprache eines Symphonieorchesters, wobei alle sieben Sätze auf der 12-taktigen Bluesform fußen. Den historischen Bezug bezeugen die ursprünglichen Satzbezeichnungen einer Aufführung mit dem Shenandoah Conservatory Symphony Orchestra von 2015. Der erste Satz „Born In Hope“, der ursprünglich als „American Revolution: Birth Of The Blues“ den Bezug zum amerikanischen Bürgerkrieg im Namen geführt hatte, weckt mit Trommelwirbeln und Piccoloflöten Erinnerungen an eine Militärparade und im folgenden Gewimmel an die Pentatonik der irischen Folklore. „Swimming In Sorrow“, das an die Überfahrt der Sklaven aus Afrika nach Amerika erinnern soll, greift die einerseits bedrückende, andererseits hymnische Atmosphäre der Spirituals auf. Kurz wehen ein Klarinettenmotiv ähnlich dem Eröffnungssolo der Rhapsody In Blue sowie eine heitere, von den Fiddeln der amerikanischen Countrymusik beeinflusste Stimmung herein, bevor die düsteren Klänge die Überhand gewinnen. Der „Reconstruction Rag“ (ursprünglich schlicht „Ragtime“) greift Motive aus Ragtime-Klassikern auf, und „Southwestern Shakedown“ (ursprünglich „Sunday Morning Church / Saturday Night Dance Shuffle“) reicht vom Choral über Shuffle und Stride bis zum Boogie Woogie. Stahl, Beton, Glas, Hektik und Stimmengewirr spiegeln sich in „Big City Breaks“ (ursprünglich „Manhattan“) in blockigen Akkorden und überlappenden Rhythmen. Schließlich wandert Marsalis’ Interesse mit „Danzón y Mambo, Choro y Samba“ zu ebendiesen afrokubanischen und brasilianischen Tanzrhythmen. Der „Dialogue In Democracy“ fasst Marsalis’ in vielen Interviews auftauchendes Grundthema in Töne: Demokratie bedeutet eine Vielzahl von Stimmen, die sich begegnen, argumentieren, einander ins Wort fallen, aber stets die andere Seite achten.
Zu hundert Prozent ist die Fusion der Welten weder 2023 Jader Bignamini mit dem Detroit Symphony Orchestra noch 2015 Cristian Măcelaru und dem Philadelphia Orchestra (Blue Engine Records BE0039) gelungen. Für beide ist der Schritt von klassischer Strenge zur aus tiefster Seele swingenden Grundhaltung zu groß. Ein Feature mit Passagen einer studentischen Aufführung von 2015 sowie Erläuterungen von Marsalis zum Stück finden sich auf https://wyntonmarsalis.org/videos/wynton-talking-about-blues-symphony.
Werner Stiefele