Steiert, Thomas / Paul Op de Coul (Hg.)

Blickpunkt Bühne

Musiktheater in Deutschland von 1900 bis 1950

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Dohr, Köln 2015
erschienen in: das Orchester 04/2015 , Seite 69

Geht das? Kann man über das Musiktheater in Deutschland von 1900 bis 1950 schreiben und sich dabei in „exemplarischen Nahaufnahmen“ vor allem dem Theateralltag widmen? Kann man allein das Bühnenkunstwerk im Blick behalten, während zwei Weltkriege, Weltwirtschaftskrise und Nationalsozialismus über Land und Menschen hinwegfegen?
Einige Autoren der 19 Beiträge des von Thomas Steiert und Paul Op de Coul herausgegebenen Bandes Blickpunkt Bühne versuchen genau das. Und so hinterlässt die Lektüre dieser vielfältigen  Themenzusammenstellung zum Teil Irritationen. So schreibt Klaus Eichhorn in seinem Text „Kein Platz für den Führer“, dass das in den 1930er Jahren neu gebaute Grenzlandtheater in Zittau „die Rolle eines Stifters deutschkultureller Identität“ erfüllte. Hier hätte es einer Einordnung dieser ohne Frage im historischen Kontext zu verstehenden Aussage bedurft. Marion Linhardt weist in ihrer Abhandlung „Die Zeit der Operette“ zu Recht darauf hin, dass die „zwanghaft vereinheitlichte ,deutsche Kultur‘ zur Auslöschung des multiethnischen Mitteleuropa“ führte. Doch der damals im rassistischen Sprachgebrauch so bezeichnete „Saxophonneger Bobby“ wird bei ihr dann ganz ohne Anführungszeichen angeführt.
Der Umgang mit der braun durchtränkten deutschen Vergangenheit, von der Kunst und Kultur eben nicht ausgenommen waren, hätte bei manchem Autor mehr Fingerspitzengefühl erfordert. Denn mit dem Rückzug auf rein musikwissenschaftliche Kriterien ist dieser Vergangenheit nicht beizukommen. Auch ein Pfitzner, dem in Straßburg die Theaterkommission in die Arbeit hineinredete, hatte mit der Inszenierung „deutscher Meisterwerke“ in der 1871 ins deutsche Reich gebombten Hauptstadt von Elsaß-Lothringen vor allem chauvinistische Ziele. Das muss erwähnt werden.
Natürlich bietet das Buch einen umfangreichen Blick auf und neben die Theaterpodeste der ersten fünfzig Jahre des 20. Jahrhunderts – sei es der Verweis auf den Einfluss der Verwaltung, die umfassende Darstellung der Entwicklung der expressionistischen Theaterästhetik, der Revuen und Operetten sowie der Hinweis auf die Verbindung von Bühnengestaltung und Werkkonzepte. Vladimír Zvara erinnert etwa an den wegweisenden Schweizer Bühnenbildner Adolphe Appia und an die Rolle Max Reinhardts in Richard Strauss’ künstlerischer Biografie: Hat er ihn doch „durch seine Produktionen von Oscar Wildes Salome (1902) und Hofmannthals Elektra (1905) zur Komposition der beiden gleichnamigen Opern angeregt“. Interessant auch Frank Mehrings Beitrag zu den Ursprüngen deutscher Amerikanismen in Operette, Revue, Zeitoper und im Film. Mehring spricht dabei ebenso deutlich die Rolle von Luis Trenker und Hans Albers als von den Nazis in Szene gesetzte „Übermenschen“ an.
Gerne hätte man mehr von dieser Einwirkung der Zeitläufte, politischen Umstürze und des Nationalismus auf die deutschen Bühnen gelesen. Doch vieles bleibt hinter dem Eisernen Vorhang verborgen – und so endet das Buch wieder nur mit einer Nahaufnahme: dem Interpretationsvergleich der „Ho-jo-to-ho Walkürenrufe“. Bayreuth hätte man auch anders in den Blick nehmen können.
Christoph Ludewig