Antonín Dvorák

Bläserserenade d-Moll op. 44

Urtext, hg. von Dominik Rahmer, Studienpartitur/Stimmen

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Henle
erschienen in: das Orchester 02/2022 , Seite 66

Spekulationen ranken sich um die Entstehungsgeschichte der Serenade für 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 3 Hörner, Violoncello, Kontrabass und Kontrafagott ad libitum von Antonín Dvořák, die er 1878 innerhalb von zwei Wochen komponiert hat. Wie kommt es, dass der Komponist sich dieser hauptsächlich in der Klassik geschätzten Gattung gewidmet hat? Hat er ein Konzert mit Mozarts Gran Partita tatsächlich im Beisein von Johannes Brahms gehört, den er in Wien treffen wollte, der aber bereits auf dem Weg nach Leipzig gewesen sein soll? Diesen und anderen Fragen geht der Herausgeber Dominik Rahmer in seinem sehr ausführlichen Vorwort nach.
Neben der Werkgeschichte sind die editorischen Bemerkungen von entscheidendem Interesse. Diese verweisen auf einen bislang unbekannten Sachverhalt, der die Verwendung der tiefen Streicher betrifft. Rahmer konnte bei der Sichtung des Partiturautografs den Hinweis entdecken, dass diese mindestens doppelt besetzt werden sollten, Dvořák also eine starke Bassgruppe wünschte – wie dies auch bei der Uraufführung realisiert wurde. Diese Anweisung wurde beim Erstdruck von Simrock 1879 jedoch nicht mehr aufgenommen – vielleicht ein Kompromiss zwischen Verleger und Autor um der besseren Verkaufbarkeit willen, der wohl auch der „ad libitum“-Zusatz durch Simrock beim Kontrafagott, das nur in den Ecksätzen eingesetzt wird, geschuldet ist.
Die Quellenlage zur Serenade lässt einige sonst hilfreiche Materialien vermissen. Es gibt keine Stichvorlagen mehr und die Stimmen der Prager Uraufführung vom 17. November 1878 sind verschollen. Erhalten hat sich das Partiturautograf mit farbigen Einzeichnungen von fremder Hand, die auf eine Bearbeitung durch einen Lektor hindeuten.
Da eine konkrete Zusammenarbeit zwischen Verleger und Komponist beim Erstellen des Erstdrucks nachgewiesen ist, dienen somit die Erstausgabe der Partitur und der Stimmen als Hauptquelle, während das Autograf und einige Skizzen überwiegend für die Entstehungsgeschichte von Interesse sind. In den Einzelbemerkungen werden einige wenige Lesarten des Autografs erwähnt, um Änderungen Dvořáks zu dokumentieren, die der Komponist im Zwischenstadium bis zur Erstausgabe vorgenommen hat.
Beim Stimmenmaterial gibt es, um die Verwendung der A-Klarinette im dritten und vierten Satz zu vermeiden, eine transponierte Fassung für die B-Klarinette; ebenso werden Hornstimmen in gebräuchlicheren Tonarten beigefügt. An wenigen Stellen wird bei offensichtlichen Abweichungen direkt im Notentext darauf hingewiesen, diese Stellen werden aber nicht noch einmal bei den insgesamt sparsamen Einzelbemerkungen aufgeführt.
Die Partitur im Format der Henle-Studien-Edition und die Stimmenausgabe – auch in der Henle-Library-App erhältlich – zeichnen sich durch eine sehr gute Lesbarkeit aus und ermöglichen die Aufführung der Bläserserenade im Sinne von Johannes Brahms: „Das müssen gute Kapellen mit Wollust blasen.“
Heribert Haase