Mussorskij, Modest / Maurice Ravel
Bilder einer Ausstellung
für Orchester, hg. von Jean-François Monnard, Partitur
> Nur selten war eine musikalische internationale Allianz so fruchtbar wie die zwischen Russland und Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zu einer Zeit also, als sich Politik und Wirtschaft bemüßigt fühlten, den Kontinent in Schutt und Asche zu legen. Die Rezeption des Boris Godunow durch Debussy und Ravel sollte Mussorgskij zu einem Heroen der Musikgeschichte machen. Dessen Werke, fast alle unvollendet und von Retuschen anderer Komponisten gezeichnet, sind vom Nimbus der Rarität umgeben, nicht nur aufgrund des vergleichsweise schmalen uvres, sondern auch aufgrund ihres äußerst individuellen Charakters, wofür Bilder einer Ausstellung, der Klavierzyklus von 1874 zum Andenken des Malers Victor Hartmann, geradezu exemplarisch einsteht. Dies gilt für die originelle Tonsprache, aber auch für das ganze Konzept, den Weg durch eine Ausstellung zu vertonen und nicht nur einzelne Bilder.
Kandinskys Einrichtung als konstruktivistisch-bewegliche Bühnenkomposition von 1928 hat dieser Einmaligkeit Ausdruck verliehen. Schon vor ihm, 1922, hatte Ravel seine Orchestrierung vorgelegt. Die war allerdings nicht die erste. Schon Michael Tuschmalow, ein Schüler Rimskij-Korsakows, hatte eine Orchesterfassung 1891 erstellt, und ebenso zu nennen ist das Unternehmen Henry Woods, der 1915 eine Version mit beträchtlichem Erfolg veröffentlichte. Ein Vergleich zwischen Wood und
Ravel ist höchst aufschlussreich: Die ganze Raffinesse bei gleichzeitiger Zurückhaltung, die, wie es im Revisionsbericht am Ende der vorliegenden Partitur beschrieben wird, auf maximale Klarheit und Transparenz der Stimmführung abzielt, wird bei Ravel ersichtlich. Aber es ist auch eine
besondere Art klanglich-konstruktiver Intelligenz, die Ravels Arbeit auszeichnet und nicht umsonst neben die Instrumentationslehre von Berlioz gestellt wurde. So etwa die Verwendung zweier Harfen am Ende des Tors von Kiew, die rätselhaft erscheint, weil Ravel sonst nur eine Harfe zum Einsatz bringt. Ein besonderer Kunstgriff ist die Zuweisung der Melodie in Il vecchio castello auf das Saxofon, Kreation einer magischen Atmosphäre.
Dieses Ausnahmeereignis der Musikgeschichte erscheint in der Edition von Breitkopf & Härtel angemessen wiedergegeben. Eine detaillierte Recherche ging der Ausgabe voraus, die neben den zwei verschiedenen Quellen der Orchesterfassung auch die Abweichungen zu den verschiedenen Klavierfassungen Mussorgskijs berücksichtigte. Der sehr aufschlussreiche Einführungstext gibt reichhaltig Auskunft über die Entstehung des Werks, den musikgeschichtlichen Kontext und lässt auch das originale Klavierwerk sowie die Situation Mussorgskijs im Zusammenhang mit dem mächtigen Häuflein in Russland angemessen zu Wort kommen. Ein besonderes Apperçu des Revisionsberichts ist die Erwähnung der Tempoangaben der unterschiedlichen Ausgaben und Interpretationen, u.a. von Rimskij-Korsakows Partitur und Koussevitskys Einspielung.
Steffen A. Schmidt