Christoph Schulte im Walde

Bielefeld: Der freie Fall des Franz B.

Mutig: „Berlin Alexanderplatz“ von Vivan und Ketan Bhatti am Theater Bielefeld

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 11/2022 , Seite 50

Da ist er also wieder: Franz Biberkopf, der Anti-Held aus Alfred Döblins 1929 erschienenem Roman Berlin Alexanderplatz. Aus dem Gefängnis entlassen, will er jetzt ein anständiges Leben führen – und scheitert total.
Wie oft war Biberkopfs Leben schon Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung? Sicher ungezählte Male. Vor allem die 1980 ausgestrahlte Fernsehserie von Rainer Werner Fassbinder mit dem grandiosen Günter Lamprecht in der Titelrolle hat sich tief ins Gedächtnis eingebrannt.
Im Theater Bielefeld feierte nun eine neue Sicht auf die Aktualität des Döblin’schen Stoffes Premiere. Als spartenübergreifendes Projekt (Musik­theater, Schauspiel, Tanz) gelangte die Oper von Vivan und Ketan Bhatti über das Schicksal des Franz Biberkopf Anfang September zur Uraufführung. Dabei steht nicht Franz’ Scheitern an den puren materiellen Gegebenheiten im Fokus, vielmehr richtet sich der Blick auf den Einfluss des ungezügelten Großstadtlebens auf dessen Psyche. Gemeinsam mit ihrer Librettistin Christiane Neudecker entwickeln die komponierenden Bhatti-Brüder eine Folge von Szenen und beschreiben den psychischen Abstieg des Franz B.
Deshalb ist es nur folgerichtig, dass ein Psychiater Franz’ Lebensschritte kommentierend begleitet. Er erkennt die „Macken“ im Hirn von Biberkopf, die sich in der Szenenfolge stetig neu manifestieren und verfestigen. Da ist sein Verhältnis zu Frauen, das von Angst geprägt ist. Er hat seine Ex-Geliebte erschlagen. Diese Tat, die ihn vier Jahre hinter Gitter gebracht hat, verfolgt ihn in seinen Träumen. Deshalb kann er kein neues Liebesverhältnis aufbauen, obwohl er das mit Mieze gerne möchte. Als Schutzmechanismus gegen tiefe Gefühle behandelt er Frauen als pure Lustobjekte.
In einer Szene im Schlachthof, der ihm Arbeit geben soll, erlebt er intensives Grauen, fühlt sich selbst als imaginäres Objekt einer ziemlich brutalen und blutigen Schlachtung und kann den Job nicht ausüben. Das geht ihm genauso als Mitglied einer Diebesbande – eine Rolle, die seinem Wunsch nach einem „anständigen Leben“ widerstrebt. Der Schlag, den er auf den Kopf erhält, dient ihm als Ausstiegsszenario, auch wenn er dadurch den Verlust eines Arms beklagen muss.
Erst nach einem „Relaunch“ in einer Nervenklinik kann Biberkopf wieder auf den Großstadtdschungel losgelassen werden. Er hat gelernt, Dinge und schreckliche Erinnerungen einfach auszublenden.
Regisseur Wolfgang Nägele entwickelt eine spannende Szenenfolge, die vielleicht ein wenig kürzer hätte ausfallen können. Aber Nägele hat ein feines Gespür für Figurenkonstellationen, die in Bielefeld von einem großartig im Team arbeitenden Ensemble mit großer Glaubwürdigkeit umgesetzt werden. Herausragend Evgueniy Alexiev, der die seelischen Leiden Franz Biberkopfs mit einer stupenden Intensität zum Ausdruck zu bringen vermag. Er meistert diese mörderische Partie bravourös und extrapoliert die seelischen Qualen, rückt sie gar in die Nähe von Christus.
Die Bhatti-Brüder untermauern Biberkopfs Seelenqualen auf ganz unterschiedliche Weise. Zum Beispiel mit lärmenden Großstadt-Beats. Zugleich dokumentieren sie mit Anklängen an Musik der 1920er Jahre die Bedeutung Berlins als kulturelles Zentrum. Aber auch leise Töne haben sie drauf: wenn Franz sich in Alkohol ertränkt und von der großen Liebe träumt. Die Musik schillert in unzähligen Farben, ist mal begleitender Teppich, mal extrem emotional und quasi eigentlicher Träger der szenisch abgebildeten Handlung. Und sie ist in jedem Moment fesselnd und entwickelt mächtige Sogkraft.
Was sie daneben aber auch noch ist: äußerst anspruchsvoll in ihrer Umsetzung! Anne Hinrichsen, seit August 2020 Studienleiterin und Kapellmeisterin am Theater Bielefeld, vollbringt ein Wunder, leitet mit großer innerer Spannung die Bielefelder Philharmoniker, koordiniert mit Präzision das komplexe Geschehen. Da fliegen förmlich die Funken zwischen Orchestergraben und Bühne. Eine überragende Leistung.
Vivan und Ketan Bhatti erschaffen einen spartenübergreifenden Abend voller Energie, die unmittelbar spürbar wird. Sämtliche Ensemblemitglieder sind bis in die Haarspitzen hinein motiviert, Opernchor und Tanzensemble agieren virtuos.
Wieder einmal erweist sich das Theater Bielefeld mit dieser Uraufführung als mutiges Haus, das an den Aufgaben, die es sich stellt, wächst.