Leonhardmair, Teresa
Bewegung in der Musik
Eine transdisziplinäre Perspektive auf ein musikimmanentes Phänomen
Gleich vorweg: Dieses Buch (Dissertation an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien) ist gut. Aber es erfordert Lust auf theoretisches Denken. Davon haben Wissenschaftler meist zu viel und Musiker/ Musikpädagogen zu wenig. Nun beschäftigt die immaterielle, geistige Dimension der Musik die europäischen Denker seit Pythagoras. Es schadet deshalb weder dem Musiker noch dem Musikpädagogen, sich mit der theoria, dem geistigen Bild der Musik, das er täglich als praxis, also als körperliches Sich-Bewegen erlebt, auseinanderzusetzen.
Genau darum geht es: Musik ist Bewegung, entsteht durch Bewegung, löst Bewegung aus. Eine wissenschaftliche Arbeit hierüber muss transdisziplinär angelegt sein. Das stellt an die Autorin besondere Anforderungen, denen sie durch die Synthese von Ergebnissen aus Phänomenologie, Philosophie, Musikästhetik, Musikwissenschaft, Harmonikaler Grundlagenforschung, Tanzwissenschaft und Kulturwissenschaft gerecht wird. Mit solider wissenschaftlicher Arbeitstechnik werden die Quellen zitiert und nachgewiesen. Ein kleines Manko: Das Literaturverzeichnis am Ende des Buchs fehlt. Die Autorin muss also alle Quellen in den Fußnoten ausführlich zitieren, was den Anmerkungsapparat doch etwas schwerfällig macht; er nimmt an vielen Stellen fast die Hälfte der bedruckten Seite in Anspruch.
Angesichts der gegenwärtigen Überfülle von empirischen Arbeiten, die dem kulturellen Phänomen Musik nur fragmentarisch gerecht werden, ist die der phänomenologischen Methode (vor allem Hans-Georg
Gadamer und Bernhard Waldenfels) verpflichtete Arbeit umso wichtiger. Auf eine gründliche einleitende Reflexion des Gegenstands und der Untersuchungsmethode folgen zwei große Teile: Bewegung als Begriff und Phänomen (Hans Heinrich Eggebrecht würde sagen: als terminus und res) und Bewegung als musikimmanentes Phänomen. Das bedeutet ein großes Ringen um terminologische Fülle und Genauigkeit, wobei mich der kulturgeschichtliche Abriss mehr beschäftigt hat als die mehr naturwissenschaftlich belegten phänomenologischen Aspekte.
Für Musiker wird der Teil 2 (Bewegung als musikimmanentes Phänomen) mit den beiden Abschnitten Bewegung im Kontext intramusikalischer Parameter (Schwingung, Zahl, Muster, Rhythmus, Melodie usw.) und Bewegung im Zwischenraum von Mensch und Musik interessant sein. Hier zeigt sich, dass man auch mal einen einzelnen Abschnitt studieren kann, wie z.B. Ausdruck und Darstellung oder etwa als Geiger die Spielbewegung.
Zu theoretisch meinen Sie als Instrumentalist nach der Lektüre? Nein, keineswegs, wenn Sie bei jedem Abschnitt Ihre subjektive Theorie mit der expliziten Theorie des Buchs vergleichen und gerne um Klarheit ringen. Oder wenn Sie sich ohnehin für Tanz und Dirigieren, Bewegungstherapie und Entspannung interessieren. Oder wenn Sie schon immer bewusst Musik aus der Bewegung (Carl Orff, 1932) gemacht haben. Oder wenn Sie zu den Liebhabern des Goethe-Worts zählen: Denken ist allen erlaubt, vielen bleibt es erspart.
Michael Kugler