Claudia Irle-Utsch

Bewährter Brückenschlag

Gewandhausorchester und Boston Symphony Orchestra lassen Richard Strauss gemeinsam glänzen

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 36

Leipzig, Juni 1926: Die Stadt feiert Richard Strauss. Zwar zwei Jahre nach vielerlei Ehrungen zum 60. Geburtstag, aber doch gebührend: „Ein schöner Platz im Park nach mir benannt mit Gedenkstein“, schreibt der 1864 geborene Komponist an seine Frau Pauline. Es ist kompliziert mit ihm und Leipzig. Harsche Kritik und nur zum Teil umjubelte Erstaufführungen, zunächst beim Gewandhaus außen vor, dann dort der erste offiziell installierte Gastdirigent und schließlich der Abgang im Frühjahr 1933: Gewandhausdirigent Bruno Walter ist von den Nazis geschasst, Strauss als Präsident der Reichsmusikkammer beflissener Einspringer für ein Konzert. Danach ist das Kapitel Leipzig für Strauss persönlich beendet, für die Musikwelt freilich nicht.

Leipzig, 5. Mai 2022: Den Gedenkstein für Richard Strauss muss man suchen; er findet sich im Schatten eines Ausflugslokals im Clara-Zetkin-Park, die Lettern vergoldet, der Glanz verblasst. Doch der Schein trügt, denn im Gewandhaus wird Strauss gefeiert. Das Orchester beginnt einen Konzertreigen und hat im Gepäck eine CD-Produktion, die konzeptuell einen großen Rahmen aufspannt: Unter der Leitung des gemeinsamen Chefdirigenten Andris Nelsons haben das Gewandhausorchester Leipzig und das Boston Symphony Orchestra (BSO) die wichtigsten sinfonischen Werke von Strauss für die Deutsche Grammophon eingespielt, mit dem Cellisten Yo-Yo Ma, dem Organisten Olivier ­Latry und der Pianistin Yuja Wang. Andris Nelsons, Rudolf Buchbinder (nach Yuja Wangs Tourabsage engagiert – was für ein Glück!) und das Gewandhausorchester fahren mit Strauss in die Welt: nach London, Wien, Hamburg und Paris. Eigentlich hätten diese Gastspiele eng verschränkt mit jenen des BSO geführt werden sollen. Fast zwei Jahre tüftelte man zuvor in Leipzig und Boston an dieser „verrückten Idee“, wie Gewandhaus-Intendant Andreas Schulz sagt. Beide Orchester wären in den europäischen Metropolen „in residence“ gewesen, doch die Weltlage stand dem entgegen.

Boston, 24. Februar 2022: Der Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine zwingt die Sicherheitsberater des BSO dazu, die Situation rund um die geplante Europatour neu zu bewerten. Dazu kommt die offiziell verlautbarte Sorge wegen der steigenden Covid-Zahlen diesseits und jenseits des Atlantiks. Nach intensiver Beratung ziehen die Verantwortlichen Ende März/Anfang April die Notbremse. Das BSO sagt die Reise ab. Verständlich, aber hüben und drüben erst einmal zu verarbeiten.
Was gleichwohl trägt, ist die Erinnerung an das Leipziger Gastspiel in der Boston Symphony Hall 2019. Mit einem der drei Konzerte klang das US-amerikanische Deutschlandjahr aus: „Wunderbar together“ war das Motto, wunderbar together spielten die beiden Orchester. Mit Strauss’ Festlichem Präludium brachte Andris Nelsons die Leipziger und die Bostoner aufs Engste zusammen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beschwor fast visionär die transatlantische Partnerschaft: „Damit Demokratie und Freiheit eine Zukunft haben in dieser Welt voller Anfechtungen und Konflikte, damit der ,Westen‘ mehr bleibt als eine Himmelsrichtung, dafür brauchen wir einander.“
Den Brückenschlag von Leipzig nach Boston und wieder zurück buchstabieren Gewandhausorchester und BSO seit dem späten 19. Jahrhundert. Dafür stehen BSO-Gründer Henry Lee Higginson, der 1881 den in Leipzig ausgebildeten Georg Henschel als Dirigenten beauftragte, oder Arthur Nikisch, der nach seiner Zeit als Chef in Boston 1895 nach Leipzig berufen wurde. Nicht zuletzt ist der Neubau der Boston Symphony Hall von 1900 inspiriert von der Architektur des Zweiten Gewandhauses, 1884 eröffnet, 1944 durch Bomben zerstört.

Boston, 20. April 1904: Strauss ist in Amerika, und dort eben auch in Boston. Er berichtet nach Deutschland: „Habe gestern mit einem der herrlichsten Orchester der Welt hier ein wundervolles Konzert dirigiert.“ Auf dem Programm stehen neben Beethoven und Wagner auch eigene Tondichtungen, Don Juan, Don Quixote, Feuersnot. Strauss schwärmt: „Das Boston-Orchester ist wundervoll, Klang, Technik von einer Vollendung, wie ich’s kaum je getroffen.“ Und er ätzt: gegen den BSO-Dirigenten Wilhelm Gericke, der Strauss in Boston eigentlich nicht sehen wollte … Es ist, wie es vielfach ist: Strauss, dem Gipfelstürmer, neidet man man­chen Erfolg, vielleicht auch, weil er als ehrgeiziger Stratege das „Gschmäckle“ bedient. Am stärksten spricht er durch seine Musik, himmelhochjauchzend und verstörend zugleich.

Leipzig, 5. Mai 2022: „Was nicht wenigstens ein bisschen erschreckt, das ist auch nicht genial“, sagt Gewandhaus-Dramaturgin Ann-Katrin Zimmermann in ihrer Einführung zum ersten der Strauss-Konzerte. Fühlbar wird dieses Erschrecken später auch: bei den zwölf Glockenschlägen der „tiefen Mitternacht“ des Zarathustra. Das Orchester glänzt mit seinem Chefdirigenten. Andris Nelsons atmet mit ihm, gibt sich hinein, formt den Klang, der im Großen, im Ganzen so strahlend, aber auch wuchtig sein kann, und im Kleinen, Leisen so zart, so punktgenau – er fordert das Hinhören, selbst in die vermeintliche Stille hinein. „Strauss lässt uns nachdenklich zurück, lässt uns fragen, was genau da gerade passiert ist, was die Musik mit uns gemacht hat“, so Andris Nelsons im das Orchester-Interview. Selbst wenn seine Tondichtungen sehr ruhig endeten, könne unsere innere Stimme antworten.
Je älter er werde, desto mehr faszinierten ihn diese sanften, zarten, zurückgenommenen Momente, so der Dirigent weiter. Es reize ihn, die Zeit in einem ausgesprochen langsamen Tempo zu entfalten, das Verhältnis zwischen Anspannung und Entspannung auszuloten. Angesichts der oft monumentalen Anfänge und überwältigenden Höhepunkte der Strauss’schen Musik brauche es diese intimen Rückzugsorte. Er wolle Strauss als einen Künstler zeigen, der aus tiefster Seele spreche, zu Tränen rühren könne. „Das ist der wahre Strauss.“ Seine Musik offenbare das Schöne und Wahre ebenso wie das Abgründige, durch und durch ehrlich, ganz und gar.

Leipzig und Boston, in Zukunft: Die Brücke, die „Alliance“, zwischen Boston und Leipzig steht, ihre Pfeiler sind stabil. Mindestens bis 2025 ist Nelsons Chef in Boston, in Leipzig bleibt er vorerst bis 2027. Flankiert wird er jeweils von einem Orchestermanagement, das auch künftig miteinander über Kompositionsaufträge entscheidet und den Austausch von Orchestermusikerinnen und -musikern sowie Akademist:innen ermöglicht. Gegenseitig befruchtend sei auch das Miteinander auf der Ebene des Managements, sagt der Leipziger Intendant And­reas Schulz: Hätte er die Zeit, könnte er sich vorstellen, ein Sabbatical in Boston zu machen. Auch weil das BSO vorbildlich in Sachen Fund­raising arbeite. Schließlich sehe er eine seiner vordringlichen Aufgaben darin, die „Institution Gewandhausorchester“ finanziell in ganz sichere Bahnen zu lenken: mit der Gründung einer Stiftung, mit weiterer Drittmittel-Werbung, mit flexibleren Abos, mit dem Aufbau eines Gewandhaus-Campus, der in einem „Music Lab“ viel Freiraum für neue Formate und noch mehr Teilhabe bieten soll.
Herr Schulz hat also zu tun – das Orchester auch: Im November stehen in Leipzig die Mendelssohn-Festtage an, im Frühjahr die Osterfestspiele in Salzburg, im Mai 2023 zu Hause das Mahler-Festival, in der neuen Spielzeit 75 Große Konzerte, bei denen 26-mal Andris Nelsons am Pult stehen wird. Der Chefdirigent will in Leipzig und Boston die je individuellen klanglichen Qualitäten weiterentwickeln, wie er sagt. Er wolle sich seine fast kindliche Neugier an der Musik bewahren, die sich auf schon Erarbeitetes bezieht, aber auch auf das, was einer Entdeckung harrt. Er bleibt transatlantisch unterwegs!