Ludwig Wittgenstein

Betrachtungen zur Musik

Aus dem Nachlass zusammengestellt und alphabetisch geordnet von Walter Zimmermann

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Suhrkamp, Berlin
erschienen in: das Orchester 11/2022 , Seite 60

Bis heute ist Ludwig Wittgenstein eine Kultfigur. Von seiner Person und seinem Denken geht nach wie vor eine große Faszination aus. Wittgenstein schrieb sein Leben lang (beiläufig) auch über Musik und Musiker, ohne dass er je eine systematische Musikphilosophie ausgearbeitet hätte. Er hat zahlreiche (überschätzte) Aphorismen zur Musik hinterlassen. Dennoch hat Walter Zimmermann, Komponist und emeritierter Professor der Universität der Künste Berlin, auf der Basis der Transkriptionen des Nachlasses im Wittgenstein-Archiv der Universität Bergen alle Äußerungen Wittgensteins zur Musik zusammengetragen, thematisch geordnet und alphabetisch sortiert zu einer Art Wittgenstein-ABC zur Musik.
Ob dieses „Nachschlagewerk“, wie Zimmerman sein Buch nennt, den Leser „viel für das grundsätz­liche Verständnis des Phänomens Musik lernen lässt“, wie er behauptet, darf ernsthaft bezweifelt werden, denn die oft schwer verständ­lichen „Gedankenformulierungen“ Wittgensteins finden sich, wie sogar Zimmermann eingesteht „eher in einem Steinbruch wieder, als auf geradem ‚Talweg‘“, wie er den ­Philosophen Michel Serres zitiert. Manche Äußerungen sind geradezu banal: „Zweck der Musik: Gefühle zu vermitteln.“ Manche sind wenig aussagekräftig: „Die Ironie in der Musik. Bei Wagner z. B. in den Meistersingern. Unvergleichlich tiefer im ersten Satz der IX. (von Beethoven) im Fugato. Hier ist etwas, was in der Rede dem Ausdruck grimmiger Ironie entspricht.“
Der Musik wird von Wittgenstein die Fähigkeit zugesprochen, dass sich die Sprache in ihr reflektieren lässt: „Das Verständnis der Musik ist eine Lebensäußerung der Menschen. Wie wäre sie einem zu beschreiben? Nun, vor allem müsste man wohl die Musik beschreiben. Dann könnte man beschreiben, wie sich die Menschen zu ihr verhalten.“ Er sah die „Möglichkeit einer Sprache, die immer gesungen wird, und die also mit einem Notensystem geschrieben werden muss“. Diese Sprache, Musik zu beschreiben, blieb er allerdings schuldig. Die Musik diente ihm offenbar als Vergleichsobjekt für Bereiche, wo seine Philosophie an Grenzen stieß. Interpretieren von Musik war für ihn vor allem ein Sprachspiel.
Ob seine subjektiven Werturteile angesichts folgender Äußerungen indes ein tieferes Verständnis von Musik verraten, sei dahingestellt: „Wenn es denn wahr ist, wie ich glaube, dass Mahlers Musik nichts wert ist, dann ist die Frage, was er, meines Erachtens, mit seinem Talent hätte tun sollen. Denn ganz offenbar gehörten doch eine Reihe sehr schöner Talente dazu, diese schlechte Musik zu machen“; „Mendelssohn ist wie ein Mensch, der nur lustig ist, wenn alles ohnehin lustig ist, oder gut, wenn alle um ihn gut sind, nicht eigentlich wie ein Baum, der fest steht, wie er steht, was immer um ihn vorgehen mag“; „Von den Melodien Schuberts kann man sagen, sie seien ­voller Pointen, das kann man von denen Mozarts nicht sagen.“
Dieter David Scholz