Gunar Letzbor
Betrachtungen vom Podium herab
Gunar Letzbors Betrachtungen vom Podium herab sind eine lektorierte und für die Buchveröffentlichung bearbeitete Sammlung von CD-Texten. Der Virtuose auf der Barockvioline kann auf eine wahrlich große Liste von Einspielungen zurückblicken, die sich vor allem mit österreichischer Barockmusik befassen. Sinnigerweise gab er seinem Ensemble „Ars antiqua austria“ den paradoxen Untertitel „Ensemble für neue Barockmusik“. Mit „neu“ meint er, dass diese Musik noch nie von den Menschen unserer Zeit gehört wurde.
In seinen Betrachtungen kommt er zu Erkenntnissen, die ziemlich konträr zum heutigen Konzertbetrieb sind, der sich auf ein sich zumeist häufig wiederholendes Repertoire konzentriert. Letzbor dagegen will lieber „neue“ Musik spielen, da es ihm um einen frischen Zugang und um Entdeckerlust geht.
So wundert es nicht, dass er der etablierten Alte-Musik-Szene kritisch gegenübersteht. Wenn Dirigenten, die sich in der historischen Aufführungspraxis profiliert haben, mit konventionellen Orchesters spielen, hält er das für fragwürdig. Auch steht er der Ausbildung an Musikhochschulen im Bereich Alte Musik skeptisch gegenüber. Er will, dass die Musiker die Musik selbst entdecken, dass sie sich nicht an vermeintlich feste Regeln halten, sondern ihren eigenen Zugang suchen in Kenntnis der Quellen und der Geschichte.
Letzbor ist als forschender Musiker eine Instanz für österreichische Barockmusik. In seinem Buch gibt er zahlreiche Einblicke, Anregungen und Hinweise. Er zeigt dem Leser z. B. die Bedeutung wenig beachteter Komponisten wie Georg Muffat oder Carlo Ambrogio Lonati. Das Habsburger Reich war, wie er darlegt, schon „multikulturell“. Deshalb erforscht er die traditionelle Musik der Slowakei, Ungarns, Polens, Mährens und Spaniens und lässt die daraus gewonnenen Erfahrungen in das Spiel österreichischer Barockmusik einfließen.
Als Violinvirtuose machte sich Letzbor durch seine Einspielung der Werke Bibers einen Namen. Ihm widmet er ein ganzes Kapitel. Darüber hinaus befasst er sich mit den Fragen zur Skordatur, die für Biber sehr wichtig sind. Schließlich überschreitet er die österreichische Grenze und arbeitet sich aus der Perspektive von Violinvirtuosen des Barocks, nämlich von Biber, Johann Paul von Westhoff und Johann Joseph Vilsmayr an Bachs Solosonaten heran.
So gibt dieses Buch Geigern und Liebhabern alter Musik vielseitige Einblicke in die Musik des alten Österreichs und Impulse fürs Nachdenken und Diskutieren. Das Buch endet nachdenklich: Musik, schreibt Letzbor, wurde für die Hörer damals, also des 17. oder 18. Jahrhunderts, komponiert. Doch wird sie, wenn wir sie so wie damals spielen, heutige Menschen, die in einem ganz anderen kulturellen Umfeld leben, erreichen? Darüber könnte man ein weiteres Buch schreiben. Aber Letzbors Betrachtungen sind sehr lesenswert, auch da sie die zentralen Fragen nicht auslassen, Fragen, die wohl nie endgültig beantwortet werden können.
Franzpeter Messmer