Sofia Gubaidulina, Elena Firsova, Edison Denisov und Valentin Silvestrov

Bessonnitsa Insomnia – A Mandelstam Album

Maacha Deubner (Sopran), KAPmodern-Ensemble

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Genuin
erschienen in: das Orchester 12/2021 , Seite 80

Die russische Moderne versuchte sich und gärte, überbot sich und brach zwischen 1880 und 1917 in vielen Varianten mit der Tradition. Erkennbar blieb dennoch ein Prinzip: die Erneuerung des Menschen, das Vordringen zum Wesentlichen und die Überwindung des nur beschreibenden Materialismus. Einer der wichtigsten Dichter in diesem Prozess war Ossip Mandelstam, ein Poeta doctus. Zusammen mit Anna Achmatova und Nikolaj Gumiljow bildete er den Kern der sogenannten Akmeisten, einer Gruppe von Künstlern der Petersburger Bohème, die dem Symbolismus mit seinen Priestern und Propheten den Kampf angesagt hatten.
Die vorliegende CD versammelt Kompositionen nach Mandelstam-Gedichten, ist Elena Firsova gewidmet und bietet Erstveröffentlichungen. Der Titel bezieht sich auf das Gedicht Schlaflosigkeit. Homer aus dem Jahr 1915, einem äußerst subtilen Text mit Verweisen auf Dantes Göttliche Komödie, auf Fjodor Tjuttschevs und Achmatovas Gedichte über Schlaflosigkeit und auf den 2. Gesang von Homers Ilias. Valentin Silvestrov hat es für Sopran und Klavier zu Musik gemacht.
Die deutsche Sopranistin Maacha Deubner ist Interpretin und Initiatorin dieses CD-Programms, zusammen mit ihren russischen Komponistenfreunden. Die Widmungsträgerin Elena Firsova befindet sich laut eigener Aussage seit Jahrzehnten in einem „endlosen Gespräch“ mit Mandelstam. Von seinen Gedichten habe sie gelernt, „in großer Ruhe über die wichtigsten Dinge zu sprechen und selbst die schlimmsten Ereignisse im Licht der Schönheit zu sehen“, so zu lesen im Booklet. Firsova wurde 1950 in Leningrad geboren und studierte am Moskauer Konservatorium. Ihre Begegnung mit Edison Denisov und über ihn die Bekanntschaft mit dem Wiener Anton-Webern-Schüler Philip Herschkowitz bestimmten ihren Weg hin zur Komponistin.
Entwicklung und künstlerisches Wachstum als Ringen zwischen den poetischen Texten und den musikalischen Idealen sind auch in den ausgewählten Werken anwesend. Beispielsweise vertonte Firsova Mandelstams Gedicht Tristia – es beschreibt Ovids letzte schlaflose Nacht vor der Verbannung – sowohl als Einzelgedicht wie auch als thematisches Textensemble und in verschiedenen musikalischen Gattungen: als Kantate, für Stimme und Kammerorchester oder als jüngste Fassung für Sopran mit Violoncello, geschrieben 2013.
Die „große Ruhe“, mit der Firsova „über die wichtigsten Dinge sprechen“ will, charakterisiert sämtliche Stücke dieser CD. Damit Ohr und Verstand allem gerecht werden, sollten die einzelnen Kompositionen – wie Pralinen – einzeln oder in Portionen genossen werden. Die Texte sind in guten Übersetzungen abgedruckt. Und die Musik ist von Solisten – überragend gut der Gesang – und dem KAPmodern-Ensemble spannungsreich konzentriert in Klang und Pausen und in der Dynamik auf feinste Nuancen ausgerichtet. Gelegenheiten für Entdeckungen.