Sven Oliver Müller

Leonard Bernstein – Der Charismatiker

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Reclam, Stuttgart 2018
erschienen in: das Orchester 10/2018 , Seite 64

Am 14. Oktober 1990, erst 72-jährig, starb Leonard Bernstein, dessen 100. Geburtstag am 25. August zu feiern gewesen wäre. Unter anderem 150 Zigaretten am Tag und viel Scotch führten zu früh zum Ende dieses außergewöhnlichen Künstlerlebens. Sven Oliver Müller hat nun ein facettenreiches Psychogramm Bernsteins erstellt.
Damit unterschei­det sich sein Buch von den beiden grundlegenden Biografien von Peter Gradenwitz (1984) und Humphrey Burton (1994) und auch von den Publikationen zum Fernsehmoderator/ Komponisten/Dirigenten, kurz: des Multitalents Bernstein. Von seiner zentralen Einstufung Bernsteins als „Charismatiker“ ausgehend widmet Müller dem Dirigenten, seinem Repertoire, dem Komponisten, Privatmann, Pädagogen, Politiker und Amerikaner je ein Kapitel; umrahmt wird dies von „(Her-)Ausbildung“ sowie „Tod und Verklärung“.
Herausgekommen ist ein gut lesbares, zitatreiches Porträt, das im Gegensatz zu einer chronologisch vorwärtsschreitenden Biografie natürlich viele Überschneidungen und leider auch Doppelungen enthält – dieser oder jener Charakterzug, das ein oder andere Verhalten sind eben diesem einen Kapitel wie auch dann einem anderen zuzuordnen.
Klar schält sich heraus, dass der in einem gutbürgerlichen jüdischen Elternhaus geförderte, über gute Schulen nach Harvard beförderte jugendliche Leonard eminent wissbegierig, vielfältig begabt und enorm extrovertiert war – und dies ein Leben lang blieb. Deutlicher als in den bisherigen deutschsprachigen Bernstein-Büchern macht Müller klar, dass Lenny ein typisch amerikanischer Künstler war: mit seinem Sinn für Showbiz, Selbstinszenierung und wenig Berührungsängsten oder gar intellektuell-elitärer Verachtung für die Medien, für Interviews, für Radio, Schallplatten, CDs, Film und vor allem Fernsehen bis hin zu Videos.
Deutlicher wird auch Bernsteins pädagogischer Eros – den McCarthy und das FBI als „links“ einstuften und auf 666 Seiten aktenkundig machten. Er glaubte an die gute Wirkung von Musik auf Menschen und wollte deshalb, dass schon Kleinkin­der mit Musik gleichsam infiziert werden sollten. Deshalb engagierte er sich für „Young People’s Concerts“, deshalb seine bis heute sehenswerten Fernsehsendungen, in denen er Studenten oder jedwedem Publikum Musik erklärte – und darin überraschende Brücken von Beatles-Songs zu Strawinskys Sacre baute.
Müller unterschlägt dabei nicht den Konservatismus Bernsteins, der Alte Musik bis einschließlich des Barock und die Avantgarde des 20. Jahrhunderts ab Charles Ives ausblendete. Zentrales Verdienst bleibt die Etablierung Gustav Mahlers in den Konzertsälen der Welt. Bernsteins oft exzessiv auf dem Podium ausgelebte und ausgetanzte Interpretationen überwältigten Hörer wie Zuschauer, vermittelten Emotionen, aus denen Neugier auf „Wieder“ und „Mehr“ erwuchsen und zu Kennenlernen von Musik und damit zu Wissen über Musik führten – der bis heute nach diesem Ausnahmekünstler benannte „Bernstein-Effekt“.
Wolf-Dieter Peter