Jörn Peter Hiekel

Bernd Alois Zimmermann und seine Zeit

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Laaber
erschienen in: das Orchester 01/2020 , Seite 64

Der Band über Bernd Alois Zimmermann, den Jörn Peter Hiekel in der Reihe „Große Komponisten und ihre Zeit“ vorgelegt hat, gehört nicht nur zu den spannendsten Beiträgen, die im zeitlichen Umfeld des Zimmermann-Jahres 2018 geschrieben wurden, sondern auch zu den profundesten. Der aktuelle Stand der Zimmermann-Forschung wird umfangreich und grundlegend dargestellt. Dass das Buch erst im Jahr 2019 erschienen ist, also zwischen dem 100. Geburtstag im Jahr 2018 und dem 50. Todestag, der im Jahre 2020 begangen wird, kann man als ironische Anekdote zu einem Komponisten verstehen, der sich stets als zwischen den Zeiten stehend verstand. Hiekel ist ein renommierter Wissenschaftler, der in seinem Buch eine Reihe von unglaublich spannenden Bezügen aufdeckt. Das beginnt schon mit der für alle Bände dieser Reihe obligatorischen Chronik, die zumeist eine recht belanglose Anreihung von Daten darstellt. Anders bei Hiekel, der ein spannend zu lesendes Konvolut erstellt hat und stets den historischen Kontext im Blick behält, der selten im Notentext präsent ist, für das Verständnis jedoch oft bedeutsam ist.
In den umfangreichen Kapiteln „Zimmermann im Kontext der Moderne“ und „Orientierungen“ legt Hiekel die Basis für sein Verständnis von Zimmermanns Schaffen. Vieles davon ist schon bekannt, etwa, dass Zimmermann mit seinen pluralistischen Erweiterungen des Zeit- und Materialbegriffs nicht ein Einzelfall ist. Auch andere Komponisten verwendeten in den 1960er Jahren Zitate und dokumentarisches Tonmaterial. Signifikant ist, dass Zimmermann vehement die Konstruktion einer „Stunde Null“ ablehnte und damit dem linearen Fortschritts- und materialen „Reinheitsdenken“ der seriellen Nachkriegsavantgarde widersprach.
Hiekel entlarvt simple, polarisierende Strukturierungen als Abgrenzungsrituale zwischen verschiedensten ästhetischen Positionen vor dem Hintergrund einer Dichotomie zwischen Fortschritt und Restauration im Sinn von Theodor W. Adornos Philosophie der Neuen Musik.
Hiekel gelingen spannende Hinweise, so im Kapitel „Beethoven und das historische Bewusstsein“, wo wichtige Zusammenhänge zwischen Beethoven und Zimmermann aufgezeigt werden oder die aufschlussreichen Untersuchungen zum Schriftverkehr mit Pierre Boulez. Aufschlussreich auch die Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Zimmermann und Stockhausen, Nono oder Ferrari und anderen. Ein umfangreiches Kapitel stellt Einflüsse aus bildender Kunst, Theater, Film und Literatur dar.
Ein Hauptschwerpunkt liegt in der analytischen Betrachtung. Hiekel geht es um die Darstellung einer stringenten Entwicklung, nicht um quantitative Vollständigkeit. Wichtig sind kompositorische Aspekte, für die die jeweils ausgewählten Werke paradigmatisch stehen. Gleichzeitig ist eine wertvolle Materialsammlung entstanden, da der Autor gründlich recherchiert und mühsame Quellenarbeit nicht gescheut hat.
Ein Register, dem anzumerken ist, dass es nicht automatisiert erstellt wurde, erleichtert das Arbeiten mit diesem Buch ungemein.
Michael Pitz-Grewenig