Peter Hagmann/Erich Singer
Bernard Haitink
„Dirigieren ist ein Rätsel“ – Gespräche und Essays
Mehr als sechs Jahrzehnte hat Bernard Haitink am Pult bedeutender Orchester gestanden, ohne nach Starruhm zu streben. Mit 90 Jahren nahm er im vergangenen September seinen Abschied von der Konzertbühne, was offiziell als „unbefristete Auszeit“ angekündigt wurde. Sein letzter Auftritt mit den Wiener Philharmonikern beim Lucerne Festival zeigte auf eindrückliche Weise, wie ein Dirigent und ein ihm vertrautes Orchester zu einer großen Einheit verschmelzen können.
In einem bei Bärenreiter/Henschel erschienenen Interview- und Essayband versuchen die Schweizer Musikpublizisten Peter Hagmann und Erich Singer dem Phänomen Haitink auf den Grund zu gehen. Fotos, teils aus Haitinks Privatarchiv, runden das Künstlerporträt ab. Erstaunlicherweise ist dies die erste eingehende Darstellung seiner Vita in deutscher Sprache.
Zwei Essays befassen sich mit Haitinks Laufbahn und der ästhetischen Erfahrung des Dirigierens. Sie rahmen einen längeren Interviewteil ein, der sich aus Gesprächen mit den Autoren zwischen 2007 und 2019 zusammensetzt.
Im Einleitungskapitel widmet sich Singer detailliert dem Werdegang des 1929 in Amsterdam geborenen Künstlers, der nach dem Violin- und Dirigierstudium mit nur 27 Jahren Erster Dirigent der Niederländischen Radio-Philharmonie wurde. Nach dem Tod Eduard van Beinums wurde der Neuling 1961 gemeinsam mit Eugen Jochum an die Spitze des Concertgebouw-Orchesters berufen, das er ab 1964 als alleiniger Chefdirigent führte.
Haitinks rascher, wenn auch nicht von Konflikten freier Aufstieg in der internationalen Musikwelt wird zudem tabellarisch dokumentiert. Nach seinen ersten Erfolgen nahm er Leitungspositionen etwa beim London Philharmonic Orchestra, beim Glyndebourne Festival, am Royal Opera House London sowie in Boston und Chicago ein. Eine besonders intensive Zusammenarbeit verband ihn bis zum Schluss nicht nur mit den Wienern, sondern auch mit dem Chamber Orchestra of Europe, mit dem er in Luzern unter anderem zwei vielbeachtete Beethoven- und Brahms-Zyklen aufführte.
Machtgebaren und ein autoritärer Führungsstil wie der von Willem Mengelberg, seinem legendären Vorgänger in Amsterdam, sind Haitink seit jeher zuwider. Hagmann und Singer präsentieren ihn als äußerst reflektierten Menschen, der sich stets seiner eigenen Grenzen bewusst ist. „Je älter man wird, desto mehr zweifelt man“, gesteht er seinen Gesprächspartnern. Ausführlich beschreibt er seine tiefgehende Auseinandersetzung mit großen Komponisten wie Bruckner und Mahler. Hagmann greift diesen Faden in seiner abschließenden Betrachtung über den Dirigenten Haitink wieder auf.
Dass mit Singer und Hagmann zwei langjährige Haitink-Kenner gemeinsam am Werk sind, erweist sich hier allerdings nicht nur als Vorteil. So kommt es in den Essay- und Interviewteilen mehrfach zu längeren Wiederholungen, man vermisst den großen verbindenden Bogen. Der durchaus gehaltvolle Band eignet sich wohl ehesten zur punktuellen Lektüre.
Corina Kolbe