Peter Buske

Berlin: Von lodernden Leidenschaften durchglüht

Deutsches Symphonieorchester Berlin: umjubelte deutsche Erstaufführung der französischen Originalfassung der Opernrarität Les Naufrageurs von Ethel Smyth

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 12/2022 , Seite 49

„Der genaue Wert meiner Musik wird wahrscheinlich erst dann erkennbar sein, wenn von der Autorin nichts mehr übrig ist als geschlechtslose Punkte und Striche auf liniertem Papier“, ahnt die englische Komponistin Ethel Smyth schon beizeiten. Schließlich haben es komponierende Frauen zu ihrer Zeit ziemlich schwer, von der männerdominanten Tonsetzergilde ernst genommen zu werden oder öffent­liche Anerkennung zu erfahren. Nicht weniger hürdenreich sind die Wege aber auch für jene selbstbewussten, um ihren Wert wissenden Komponistinnen, die ihre musiktheatralischen Werke „an den Mann“ in Gestalt ängstlicher Operndirektoren oder risikoscheuender Impresarios bringen wollen. Die englische Komponistin Ethel Smyth, 1858 in London geborene „höhere Tochter“ eines Generalmajors, hat dies jedoch geschafft.
In jungen Jahren fasst sie den Entschluss, am Leipziger Konservatorium Komposition zu studieren. Den Widerstand ihres Vaters bricht sie durch rebellisches Verhalten und Hungerstreik, sodass er schließlich einlenkt, um den häuslichen Frieden wieder herzustellen. Die zukünftige Frauenrechtlerin hat ihre Durchsetzungsprobe bestanden. Im Sommer 1877 reist sie ans Ziel ihrer Träume. Doch das Konservatorium entpuppt sich als Enttäuschung, den Unterricht findet sie uninspiriert und langweilig. Kurzerhand quartiert sich die resolute Engländerin beim Ehepaar von Herzogenberg ein, in dessen Haus sie Komponisten wie Edvard Grieg, Peter Tschaikowsky oder Johannes Brahms kennenlernt und sich eingehend mit Orchestration und Musikdramatik beschäftigt. Mehrere in Deutschland und England aufgeführte Opern sowie eine Messe tragen ihr alsbald den Ruf der führenden Komponistin ihrer Zeit ein.
Die Uraufführung ihrer dritten Oper Les Naufrageurs findet am 11. November 1906 in Leipzig statt – auf Deutsch unter dem Titel Strandrecht. Das Libretto hat Smyths Liebhaber Henry B. Brewster allerdings auf Französisch verfasst, denn er hofft, den Musikdirektor des Royal Opera House Covent Garden auf diese Weise für das Werk gewinnen zu können. Es klappt nicht, also Leipzig. Doch der Dirigent nimmt umfangreiche Kürzungen vor, sodass die Komponistin noch vor der zweiten Vorstellung das Aufführungsmaterial einsammelt und abreist.
In Prag leiden die Vorstellungen unter mangelnder Probenarbeit. Dagegen interessiert sich der Wiener Hofoperndirektor Gustav Mahler für die Partitur, doch nach hausinternen Intrigen gibt er sein Amt auf. Die erste englische Aufführung der nun The Wreckers genannten Oper findet am 22. Juni 1909 in Her Majesty’s Theatre in London statt. Nachfolgende Aufführungen gibt es endlich auch an Covent Garden – doch keine in der originalen französischen Fassung. Dann wird es ziemlich still um die Oper, die schließlich in den Archiven verschwindet.
Bis Robin Ticciati, Musikdirektor des Glyndebourne-Festivals, sie wiederentdeckt und im diesjährigen Sommer auf die dortige Bühne bringt. Als Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin präsentiert er Ende September Les Naufrageurs (Die Strandräuber) als deutsche Erstaufführung der französischen Originalfassung in der Berliner Philharmonie. Für die enthusiastisch bejubelte konzertante Aufführung bringt er die Glyndebourne’sche Solistenriege mit. Ein eingespieltes Ensemble, das die Rollen nicht nur auswendig und ausdrucksstark singt, sondern auf schmaler Spielfläche vorm Orchester auch mit halbszenischen, handlungsverstehenden Aktionen brilliert.
Die Handlung spielt an der Küste von Cornwall in einem Fischerdorf, dessen Bewohner bei stürmischem Wetter die Leuchtfeuer auf den Klippen löschen. Seefahrer verlieren so die Orientierung, ihre Schiffe stranden oder zerschellen. Die Fracht nehmen die Dörfler als Beute, Überlebende bringen sie um. Der von religiösem Fanatismus verblendete Ortsgeistliche Paskoe (Philip Horst mit bassbaritonaler Durchschlagskraft) treibt sie dazu an: Dies sei die Ernte, die Gott ihnen durch die See beschere. Seit einiger Zeit bleibt sie jedoch aus, was an zunehmender Gottlosigkeit liege. Der wahre Grund? Am Strand werden glühende Feuerreste entdeckt. Ein „Verräter“ warnte also die Schiffe. Der Verdacht fällt auf den Pfarrer. Doch dessen junge Frau Thirza (Karis Tucker mit Mezzoglanz) und ihr Geliebter Mark (Rodrigo Porras Garula mit heldentenoralem Aplomb) bekennen sich vor dem Dorfgericht schuldig. Sie werden zum Tod durch Ertrinken verurteilt. In einer Höhle am Meer erwarten sie die Flut – was unwillkürlich an das Finale von Verdis Aida denken lässt.
Nicht nur dabei offenbart die von lodernden Leidenschaften durchglühte, stets vom Meer inspirierte Musik ihre unglaubliche Schönheit und facettenreiche Emotionalität. Sanft wogt sie dahin, um wenig später brandungsgleich Gischt zu versprühen, sturmgepeitscht dahinzujagen oder klangfarbenreich brodelnde Gefahren zu imaginieren. Voller spannungsberstender Intensität wissen die hingebungsvoll aufspielenden Musiker:innen, der klangprächtig auftrumpfende Rund­funkchor Berlin und die gestaltungsstarke Solistenriege jene „geschlechtslosen Punkte und Striche auf liniertem Papier“ in Herz und Verstand erregende Klänge zu verwandeln. Ethel Smyth hätte die Aufführung sicherlich genauso genossen wie das Publikum in der Philharmonie.