Holliger, Heinz

Berceuse pour M.

für Englischhorn solo

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz
erschienen in: das Orchester 10/2017 , Seite 66

Berceuses (Wiegenlieder) kommen bekanntlich im ruhigen Tempo daher, denn sie sollen kleine Kinder sanft und lächelnd in das Reich des Schlafes führen. Wen Heinz Holliger jedoch mit seiner Berceuse für Englischhorn solo beglückte, ob er überhaupt an eine bestimmte Person und deren entspannte Nachtruhe dachte, verrät der Titel nicht: nur der Anfangsbuchstabe „M“ im Titel weist möglicherweise auf einen Namen hin. Sicher ist, dass das Stück den ausführenden Oboisten und die Zuhörer allemal mehr als drei Minuten lang mit schönen, wohlgesetzten Klängen beglückt und entspannt.
Spieltechnisch erfordert es sichere Intonation in jeder Lage, ein bisschen Freude an Agogik, leise und trotzdem klangschöne Dynamik und saubere Bindungen – also das Rüstzeug eines jeden guten Oboisten. Holliger setzt das Englischhorn bis hinauf zum notierten g”’ ein. Hohe und höchste Lage dominieren die Berceuse, nur wenige Male darf der Oboist ein kleines h spielen. Dann ist allerdings löblicherweise nie ein Pianissimo vorgezeichnet. Kurz vor Ende des nicht mensurierten Werks darf das kleine h im Forte dolce geblasen werden. Das wirkt als wohl überlegter akustischer Kontrast nach den vorhergehenden hohen Phrasen, ist schön zu spielen und angenehm in den Ohren der Hörer. Zu diesem Zeitpunkt werden diese, so sie denn ein wenig Liebe für neue Klänge mitbringen, lächelnd und entspannt zurückgelehnt der sanft ausklingenden Musik lauschen.
Holliger legt sich tonal nicht fest, kitzelt mit Intervallsprüngen und ein paar Flageoletts Klangfarben und Affekte aus der an sich schlichten, wenn auch atonalen Melodik heraus. Kurz vor der Mitte des Werks, das die insgesamt drei verwendeten Taktstriche lediglich als Zeichen des Beginns einer neuen Phrase und nicht zum Beenden eines Takts verwendet, nutzt Holliger kurz die Tricks der Chromatik und der Modulation, um die Expressivität zu steigern. Allerdings würzt und verzerrt er beides durch fast spontan wirkende Wendungen und Sprünge.
Heinz Holliger überlässt bei der Interpretation des Werks nichts dem Zufall und schreibt jedes Spiel mit dem Tempo genau vor. Artikulationen und Akzente sind, ebenso wie die Dynamik, genau notiert. Die Rhythmik scheint auf den ersten Blick ein bisschen frei, ist aber ebenfalls genau notiert und sollte beachtet werden, um die Wirkung des recht kurzen Werks nicht zu mindern. Möglicherweise hat Holliger hier eine Improvisation notiert und möchte sie sicher notengetreu wiedergegeben haben.
2015 hat Holliger die Berceuse selbst in Zürich uraufgeführt. Nun liegt sie als einseitige Ausgabe vor und hat das Zeug, viele Oboenmusikprogramme zu bereichern. Werke für Englischhorn so­lo, die weder allzu pastoral noch folkloristisch an­muten, trotzdem aber den gefühlvollen Charakter des Instruments hervorheben und zugleich in der Neuen Musik wurzeln, sind nur spärlich gesät. Hier liegt nun ein weiteres Schmankerl im Druck vor – vorausgesetzt, man lässt das Englischhorn gern in der dreigestrichenen Oktave jubilieren.
Heike Eickhoff

Page Reader Press Enter to Read Page Content Out Loud Press Enter to Pause or Restart Reading Page Content Out Loud Press Enter to Stop Reading Page Content Out Loud Screen Reader Support