Henze, Hans Werner

Being Beauteous / Kammermusik 1958

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 7334 2
erschienen in: das Orchester 05/2016 , Seite 73

Er hat sich nicht irritieren lassen. Weder der Boykott der Donaueschinger Premiere von Nachtstücke und Arien durch Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono im Jahr 1957 noch die spätere Kontroverse mit Helmut Lachenmann, die sich auf die Kammermusik 1958 bezog, haben Hans Werner Henze von seiner Kehrtwende „zurück zur Musik“ abgehalten. Seit er 1953 in Italiens schönen Gefilden eine neue Heimat und seine Ruhe „vor dem ganzen Betrieb“ gefunden hatte, war seine Musik abseits der tonangebenden Avantgarde konsequent und kreativ um Ausdruckskraft und Sprachlichkeit bemüht; sie nutzte Traditionen vielfältig und schloss die Bezug- und die Einflussnahme auf die Realität nicht aus; statt der „reinen Lehre“ des Seriellen eine „musica impura“, deren hochartifizielle und hochkomplexe Texturen dem Reihendenken freilich ebenso wenig abhold sind wie der motivischen Arbeit.
Solches individuelle Maß und Anliegen prägen auch die Kammermusik 1958 und die Koloratursopran-Kantate Being Beauteous von 1963. Beides sind „Reisebilder“: Reisen in die Landschaften und Mythen Griechenlands und in die rätselhafte Dichtung Friedrich Hölderlins; Reisen in die Gegensätze und Abgründe New Yorks und in die um den Verlust reiner Schönheit und Liebe trauernde Lyrik Arthur Rimbauds. Und eine Reise in die eigene verletzte Seele… In der Kammermusik 1958 über die Hymne In lieblicher Bläue von Friedrich Hölderlin für Tenor, Gitarre und acht Solo-Instrumente spielt die Gitarre als „ein aus dem Volke und den Anfängen der Musik in die sophistication hinaufentwickeltes Instrument“ eine wichtige Rolle bei der Begleitung der „intimeren monologischen Teile der Dichtung“ und die drei Tentos die eines „materialspendenden Nukleus“ für die thematisch-harmonischen Strukturen des Gesamtwerks. Dessen beziehungsreiche Form resultiert auch aus dem ausgewogenen Wechsel der Besetzung – drei Tentos: drei Gitarrenlieder, drei Tutti-Lieder, drei Ensemblesätze und das 1963 angefügte Adagio (alle sind als kleine Zyklen separat aufführbar) –, um sich eindrucksvoll zwischen den sehnsüchtigen Hornrufen der Prefazione und dem elegischen Epilogo zu entfalten.
Auch die Kantate Being Beauteous auf das gleichnamige Gedicht aus Les Illuminations (1872/73) von Arthur Rimbaud für Koloratursopran, Harfe und vier Violoncelli integriert Disparates in eine zwölfgliedrige symmetrische Form: g-Moll und Punktualismus, Lamento und Arioso, Valse und fünf eng verwobene instrumentale Intermezzi. In dieser visionären Szenerie brilliert Anna Prohaska mit einem hinreißenden Balanceakt zwischen feinen Kantilenen, halsbrecherischen Koloraturen und sensiblem Ausdruck. Und Peter Ruzicka ist die Ersteinspielung der Kammermusik in der Version für Streichorchester zu danken, die Henzes Klanglandschaften kontrastvoll bereichert. Gemeinsam mit den exzellenten Solisten Peter Gijsbertsen und Jürgen Rock sowie dem Hamburger Sinfonieorchester des NDR, welcher das Werk einst in Auftrag gab, sorgt er für eine überaus feinsinnige und klangschöne Wiedergabe.
Eberhard Kneipel