Albrecht Selge

Beethovn

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Rowohlt
erschienen in: das Orchester 09/2020 , Seite 83

Der Blick auf den Titel lässt stutzen: “Beethovn?” Doch in früheren Zeiten nahm man es mit der Schreibung von Eigennamen nicht so genau. Dies macht sich Albrecht Selge gekonnt zu Nutze und führt uns in eine wahre Odyssee: Lesend folgen wir unterschiedlichsten Protagonisten, die sich auf der Suche nach dem großen Komponisten befinden. Doch statt Beethoven finden sie meist nur Spuren von und Erinnerungen an Beethowen, Bethofn, Bethowen, Bethoven, Beathoven oder Beethovn. Herr van B. scheint nicht greifbar, schillernd, unbestimmt; sein Wesen und seine Person lösen sich durch die Betrachtungen derer, die nach ihm suchen, geradezu auf. So viele Namen es für ihn gibt, so viele Identitäten scheint er zu haben. Doch je mehr Facetten wir beim Lesen einsammeln, desto deutlicher setzt sich im Verlauf des Buchs unser Beethoven-Bild neu zusammen, das immer vielfältiger und farbenreicher wird.
Die handelnden Personen sind zum Großteil historisch verbürgt. Louis Schlösser, Komponist aus Darmstadt, irrt durch Wien auf der Suche nach seinem großen Vorbild, doch jede Wohnung, die er findet, hat Beethoven, der unentwegt umzieht, kurz zuvor schon wieder verlassen. Neffe Karl stolpert durchs Dickicht des Wienerwalds, weil er beim Spaziergang den Onkel aus den Augen verloren hat. Jozijne van Vlasselaer ist die Urururururgroßmutter von Beethoven, die 1595 als Hexe auf dem Großen Markt in Brüssel verbrannt wurde und nun als Geist durch die Jahrhunderte wandert und alle Beethovens begleitet. Franz Grillparzer denkt empört darüber nach, dass sein Name falsch geschrieben wurde (Krillparzer) und ob Beethoven wohl seine “Melusine” vertonen würde. Es treten weiterhin auf „die ungeliebte Sterbliche“ Josefine (eine unbekannte Hure), „die sterbliche Geliebte“ Josephine Brunsvik, die ihren Mann statt Stackelberg nur Stachelzwerg nennt, deren Tochter Minona, deren Namen von hinten gelesen „Anonim“ bedeutet und über die spekuliert wird, dass sie die uneheliche Tochter Beethovens sei. Albrecht Selge, Autor und Musikkritiker in Berlin, hat in sein überschäumendes Panoptikum zahllose Anspielungen und versteckte Hinweise eingebaut, die aufzuspüren für literarisch und musikhistorisch gebildete Leser ein intellektuelles Vergnügen bedeutet. So sinniert etwa Louis Schlösser auf seinen Gängen durch Wien über den „Möglichkeitssinn“ und den „Wirklichkeitssinn“ und bewegt sich dabei auf den Spuren des “Manns ohne Eigenschaften” von Robert Musil. Neffe Karl, der von einem Leben in England träumt, summt, während er im Wienerwald Kratzbeeren pflückt, das Lied “Scratchberry fields forever” vor sich hin und nimmt damit einen berühmten Beatles-Song vorweg. Und in einem fast schon rauschhaften Kapitel verschränken sich Thomas Manns Adrian Leverkühn und die Hauptfigur aus Anthony Burgess’ Zukunftsroman “Clockwork Orange” zu Alex Leverkuhn, der die Aufführung von BeethovensNeunter mitverfolgt.
Ein Roman voller Humor, Ernsthaftigkeit, Tiefe und überquellender Fantasie – ein Lichtblick im Jahr BHTVN2020.

Rüdiger Behschnitt