Manfred Hermann Schmid

Beethovens Streichquartette

Auf der Spur musikalischer Gedanken. Ein Werkführer

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Bärenreiter/Metzler
erschienen in: das Orchester 04/2022 , Seite 66

Das Buch ist ein Vermächtnis – im doppelten Sinn des Wortes. Der Autor – der renommierte und viele Jahre als Ordinarius in Tübingen lehrende Musikwissenschaftler Manfred Hermann Schmid – ist am 5. Oktober 2021 im Alter von 74 Jahren gestorben. Die mutmaßlich letzte größere Publikation aus seiner Hand ist zugleich ein Meisterwerk musikwissenschaftlicher Literatur und eine Deutung ultimativer musikalischer Kunstwerke. Denn solche sind die Streichquartette Beethovens, erst recht die späten. Und rund 200 Jahre nach ihrer Entstehung sind sie ungebrochen eine große Herausforderung in ihrer Analyse und Deutung.
„Einfach kann eine Sprache der Interpretation nicht sein. Klar sollte sie gleichwohl bleiben, lautete die Forderung an mich selbst.“ Das schreibt der Autor im Vorwort. Und er hält sich an diesen Anspruch. Seine Analyse der 17 Streichquartette Beethovens ist hochkomplex und geht sehr ins Detail, der Text ist aber dennoch immer gut les- und nachvollziehbar.
Weiterer Anspruch des Autors – dem er ebenfalls in überzeugender Weise gerecht wird – war es, die formale Bedeutung harmonischer Prozesse sowie Rhythmus und Syntax bei Beethovens Quartetten besonders in den Blick zu nehmen. In diesem und vielen anderen Bereichen vermittelt das Buch den selbst musizierenden, musikforschenden oder musikliebenden Lesern viele spannende, neue und immer nachdenkenswerte Einsichten.
Manfred Hermann Schmid, der nicht zuletzt als Mozart-Forscher hervorgetreten ist, war nicht nur Musikwissenschaftler, sondern auch Musiker, vor allem Bratscher. Und er hat die Beethoven-Quartette selbst gespielt und mit Rudolf Koeckert, dem legendären Konzertmeister des Sinfonieorchesters des BR und Primarius des nach ihm benannten Quartetts, studiert. Dieser doppelte Blick auf diese epochale Werkgruppe ist in dem Buch spürbar und macht in nicht geringem Maße seinen Charme und seinen Wert aus.
Der Betrachtung des letzten Quartetts op. 135 lässt der Autor ohne ausdrückliche Überschrift ein kurzes Nachwort folgen. Er findet dabei sehr kluge Worte über den Wert und die Grenzen einer differenzierten musikwissenschaftlichen Analyse – und er spricht in der Auseinandersetzung mit Beethovens Musik vom unstillbaren Bedürfnis, „den Rätseln eines Menschheitswunders auf die Spur zu kommen“. Die Suche nach dem wohl nie vollständig aufzudeckenden Sinn gerade der späten Quartette ist, so deutet es Schmid an, eine Suche nach universeller Wahrheit.
Bei Bärenreiter/Metzler ist übrigens 2020 auch das äußerst erhellende Buch mit Gesprächen zwischen Alfred Brendel und Peter Gülke über die Interpretation der Musik Schuberts und Beethovens erschienen, das eine gleichfalls fundierte, aber ganz andere Art der Reflexion über musikalische Werke bringt. Schmid setzt auf seine höchst eindrucksvolle Art die „klassische“ musikwissenschaftliche Analyse in ihr Recht, wenn es darum geht, sich bedeutenden Kompositionen zu nähern und sie zu verstehen.
Karl Georg Berg