Michael Heinemann

Beethovens Ohr

Die Emanzipation des Klangs vom Hören

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Edition Text + Kritik
erschienen in: das Orchester 01/2021 , Seite 60

„Das Ohr ist entbehrlich. Zumindest für den Komponisten.“ So provokativ diese Formulierung des Autors auf den ersten Blick anmutet, so sehr ist diese These gleichzeitig Dreh- und Angelpunkt seines Buches. Michael Heinemann leitet uns an, Beethovens Leistung, die trotz des Gehörverlusts absolut bewundernswert ist, noch umfänglicher zu verstehen.
Über verschiedene Ansätze wie „Körperbewusstsein“, „Tasten“, „Fassen“, „Überschreiten“ und „Befreien“ gelangt der Autor zu dem Ergebnis, dass das Gehör nicht die einzige Instanz ist, Schalleindrücke aufzunehmen. Hören meint nicht nur Wahrnehmen und Verstehen, sondern Empfinden und Spüren, Berührt- und Ergriffenwerden. Beethovens Kompositionen sind nicht nur einer immensen handwerklichen Meisterschaft geschuldet, sondern gründen auf einer metaphysisch zu nennenden Inspiration – so gibt es auch ein Selbstzeugnis, das die unzulängliche Erfassung seiner von höherer Stelle empfangenen Gedanken und Gefühle in eine fassbare Form beklagt – und unterlagen einem lebenslangen Perfektionsprozess. So ist dieses Buch ein weiteres Steinchen im Mosaik des großen Genius Beethoven.
Es ist spannend, dass zur Beweisführung der These auch Werkanalysen hinzugezogen werden. In aller Differenziertheit werden Wahrnehmungsmöglichkeiten über das Hören hinaus beleuchtet. Heinemann geht etwa der Frage nach, wie aus einer aufgezeichneten Geste in den berühmten Skizzenbüchern eine umsetzbare Verschriftlichung wurde, die letztendlich dazu führte, dass Kommunikation entstand – für einen tauben Menschen sicherlich eines der wichtigsten Ziele.
Weiter hinterfragt der Autor, wieviel von dem Impuls eines Einfalls übrigbleiben darf, um bei den zeitgenössischen Hörern noch Rezeption möglich zu machen. Dass hierfür manche „Regulierung“ der ersten Idee nötig war, erscheint logisch, denn die Verarbeitung konnte nur innerhalb der Regeln stattfinden, die jedem der „Gesprächspartner“ bekannt und vertraut waren. Und doch lag sicherlich ein wichtiger Schritt in deren Überwindung. Wer wäre Beethoven gewesen, wenn er sich nur an die Vorgaben von Verlegern und Hörern gehalten hätte, wenn er nicht Grenzen überschritten hätte? Die Kritik seiner Interpreten mag aus dieser Diskrepanz entstanden sein, aber Heinemann führt immer wieder die zunehmende Sensibilisierung Beethovens für andere Dimensionen der Musik an, die ein Weg war, der dem Komponisten jenseits des Hörkanals offenstand.
Dabei spielten direkte körperliche Empfindungen ebenso eine Rolle wie das Ausloten der äußersten Möglichkeiten der Instrumente sowie das Experimentieren mit Oberton-Phänomenen oder Verfeinerungen der Artikulation. Nicht umsonst wurden Beethovens Anweisungen im Notentext im Laufe seines Schaffens immer differenzierter. Die Unfähigkeit, akustische Reize zu empfangen, und der damit einhergehende Kontrollverlust wurden so kompensiert.
Auch Beethovens Leid durch die gesellschaftliche Isolation, ausgelöst durch die Taubheit, wird thematisiert.
Sabine Kreter