Ludwig van Beethoven
Beethoven X – The AI Project
Cameron Carpenter (Orgel), Beethoven Orchester Bonn, Ltg. Dirk Kaftan
„Aber wir, wir müssen doch weiter kämpfen, da uns die Zehnte noch nicht gesagt wurde“: In seiner Prager Rede ein Jahr nach Gustav Mahlers Tod reflektiert Arnold Schönberg über die Tatsache, dass (einmal von Haydn und Mozart abgesehen) die großen Sinfoniker auf rätselhafte Weise nie über neun Sinfonien hinausgekommen sind – bis damals, Schostakowitsch hat ja dann 15 geschrieben. Vielleicht wären die Rätsel der Welt gelöst, wenn uns eine zehnte Sinfonie gegeben worden wäre, spekulierte Schönberg 1912. Aber sie ist uns eben nicht gegeben. Bruckner hat selbst seine schon so ungeheuerliche Neunte nicht vollendet, Mahler hat immerhin einen ersten Satz fast fertig gestellt und die anderen vier Sätze als Particell entworfen. Und auch von Beethoven gibt es Skizzen zu einer Zehnten.
Versuche, aus den Skizzen von Beethoven, Bruckner und Mahler (auch bei den fehlenden Sätzen von Schuberts „Unvollendeter“ ist das so) ein aufführbares Stück zu machen, gab und gibt es immer wieder. Die auf der vorliegenden CD nun vorgestellte Gestalt der letzten beiden Sätze einer Zehnten von Beethoven ist etwas Besonderes durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz. Unter Leitung von Matthias Röder vom Karajan Institut Salzburg fütterte ein Team aus Musikinformatikern, Computerwissenschaftlern, Programmierern und dem Komponisten Walter Werzowa den Rechner mit Beethovens Skizzen, seiner Musik und der seiner Zeitgenossen. Die Vorschläge der Rechenmaschine wurden dann gesichtet und die ausgewählten wieder neu eingespeist. Am Ende entstand aus der Zusammenarbeit von Mensch und Computer eine spielbare Partitur.
Der Pandemie wegen wurde die Live-Uraufführung mehrfach verschoben und fand erst im Oktober 2021 in Bonn statt. Die CD wurde allerdings bereits im Juni 2021 aufgenommen.
Wir müssen weiter kämpfen! Das steht nach dem Eindruck dieser Fassung fest, um noch einmal auf Schönberg zurückzukommen. Und ob der Einsatz von Künstlicher Intelligenz am Ende mehr bringt als Vervollständigungen auf der Basis kongenialer Stilsicherheit – man denke hier an Robert Levins Versionen von Mozarts Fragmenten der c-Moll-Messe und des Requiems –, bleibt nach dem Hören dieser Version offen.
Das Ergebnis des von der Deutschen Telekom unterstützten Projekts ist interessant. Es ist in keiner Weise eine irgendwie geartete Rekonstruktion eines von Beethoven nie komponierten Werks, sondern ein an sich ganz reizvolles Experiment. So in dieser Art hätte es eine Zehnte geben können. Der Einsatz einer Choralmelodie im Finale ist authentisch, die solistische Orgel natürlich eine Eigenwilligkeit der Bearbeiter. Zumindest eines wird deutlich: Eine Zehnte Beethovens wäre keine Fortsetzung oder Übersteigerung der Neunten geworden, sondern ein Werk von ganz anderem Charakter.
Ergänzt wird die CD durch eine in gleicher Weise heiter-beschwingte wie beredt ausgearbeitete Wie-dergabe der achten Sinfonie mit dem Beethoven Orchester Bonn unter seinem Chefdirigenten Dirk Kaftan.
Karl Georg Berg